Drucksache 18/422
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Vor diesem Hintergrund beauftragte das Parlamentarische Kontrollgremium Mitte Januar 2017 gemäß § 1 Absatz 1 i. V. m. § 5a PKGrG seinen Ständigen Bevollmächtigten, die Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Bundesnachrichtendienstes im Zusammenhang mit Amri zu untersuchen. Der Ständige Bevollmächtigte hatte zu untersuchen, welche rechtlichen, gegebenenfalls organisatorischen, strukturellen und tatsächlichen Defizite bei der Aufklärung und Bewertung der Person Amri festzustellen sind. Ebenfalls untersucht
wurden der Informationsaustausch und die Zusammenarbeit zwischen den Nachrichtendiensten des Bundes und
beteiligten Behörden im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ). Der Untersuchungszeitraum umfasste
die Zeitspanne vom ersten aktenkundigen In-Erscheinung-Treten Amris in Deutschland bis zu seinem Tod am
23. Dezember 2016.
Ende März 2017 nahm das Parlamentarische Kontrollgremium den geheimen Abschlussbericht des Ständigen
Bevollmächtigten entgegen. Auf Grundlage des Berichts kam es zu folgender öffentlicher Bewertung:
I. Die Gefährdungssachverhalte, in denen Amri eine Rolle spielte, gehörten zu den rund 440 konkreten Gefährdungshinweisen im Bereich islamistischer Terrorismus des Jahres 2016 in Deutschland. In 2016 wurden allein 753 Ermittlungsverfahren mit 1.023 Beschuldigten nach den §§ 129a und 129b StGB von Bund
und Ländern durchgeführt. Amri ist im Sommer 2015 illegal in das Bundesgebiet eingereist. Bis zum Anschlag am 19. Dezember 2016 ist er durch fast ganz Deutschland gereist und hat sich nachweislich in sechs
Bundesländern aufgehalten. Rund 50 Behörden und staatliche Einrichtungen in Deutschland haben sich
mit ihm straf-, polizei-, asyl-, ausländerrechtlich oder nachrichtendienstlich befasst.
1.
Amri wurde frühzeitig im Oktober 2015 als Person des islamistischen Gefährdungsspektrums identifiziert.
Die von Amri im Wesentlichen mit kleinen Variationen genutzten fünf Kernidentitäten wurden zügig aufgedeckt. Amri wurde als gewaltbereiter Islamist eingeschätzt. Die Sicherheitsbehörden gingen davon aus,
dass er seine Anschlagsplanungen ausdauernd und langfristig verfolgen werde. Diese Einschätzung wurde
unter anderem durch Erkenntnisse aus Kommunikationsüberwachungen Amris oder zuletzt noch im Oktober 2016 durch Erkenntnisanfragen von AND gestützt. Die federführende sicherheitsbehördliche Zuständigkeit für den ab dem 17. Februar 2016 als Gefährder eingestuften Amri lag durchgängig bei den
Polizeibehörden. Im Zeitraum bis zum 11. März 2016 war das Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen, ab dem 11. März das LKA Berlin sowie ab dem 10. Mai 2016 das LKA Nordrhein-Westfalen zuständig.
2.
Bei Amri handelte es sich um einen polizeilich geführten Sachverhalt in Länderzuständigkeit. Eine formelle Übernahmebitte gegenüber dem BKA im Sinne des § 4a BKAG wurde von keinem Land gestellt.
Dementsprechend kamen dem BKA und den Nachrichtendiensten des Bundes (Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst) lediglich eine unterstützende Rolle im Fall Amri zu. Das Bundesamt für Verfassungsschutz war im Wesentlichen im Rahmen seiner Zentralstellenfunktion mit der Koordinierung im Verfassungsschutzverbund befasst. Aufgrund der federführenden polizeilichen Bearbeitung
war der Koordinierungsbedarf entsprechend gering. Der Bundesnachrichtendienst war im Rahmen seiner
gesetzlichen Zuständigkeit nur für auslandsbezogene Sachverhalte im Zusammenhang mit Amri zuständig.
Im Verfassungsschutzverbund und beim Bundesamt für Verfassungsschutz hätte es weitere Ansätze für
Aufklärungsmaßnahmen gegen Amri geben können. Diese sind aber nicht abgefordert worden, allerdings
soweit erkennbar, auch nicht eigenständig angeboten worden. Der Bundesnachrichtendienst ist nicht mit
allen auslandsbezogenen Sachverhalten zu Amri befasst worden. Informationsmöglichkeiten blieben ungenutzt.
3.
Anhaltspunkte, dass Amri als V-Person eines Nachrichtendienstes des Bundes genutzt werden sollte, fanden sich nicht.
4.
Amri war Gegenstand von insgesamt elf Besprechungen in verschiedenen Foren des GTAZ. Dabei wurden
vor allem die zu ihm vorliegenden Gefährdungshinweise besprochen. Das etablierte formale Gefährdungsbewertungssystem stellt dabei die Wahrscheinlichkeit der konkret behandelten Anschlagsplanung in den
Mittelpunkt der Betrachtung, nicht jedoch die Gefährlichkeit der Person. Zu den in diesen Sitzungen getroffenen Absprachen kam es nicht durchgängig zu einem vollständigen Informationsaustausch über getroffene Maßnahmen und neue Erkenntnisse zwischen allen beteiligten Behörden.
5.
Aufgrund der Anhaltspunkte für Anschlagsplanungen Amris, auch, wenn diese im Ergebnis insgesamt als
eher auszuschließen eingeordnet wurden, führte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sein Asylverfahren – in Abstimmung mit den Sicherheitsbehörden – binnen eines Monats nach Antragstellung
durch, Asyl in Deutschland wurde mit dem Bescheid vom 30. Mai 2016 abgelehnt. Nach der Ablehnung
des Asylantrags fokussierte sich das behördliche Vorgehen darauf, Amris seit dem 11. Juni 2016 bestehende Ausreisepflicht durch seine Abschiebung nach Tunesien umzusetzen, ohne allerdings die mögliche