Datenbasis wurden die Morde durch die Gesamtanalyse,
nach dem hier vorliegenden Kenntnisstand auch in retrograder Betrachtung, in weiten Teilen realitätsnah rekonstruiert und die richtigen Schlüsse, beispielsweise zum
kontrollierten Täterverhalten, gezogen.‘45 Auch über drei
Jahre nach der Selbst-Enttarnung des ‚NSU‘ zeigt sich
der Polizeiapparat des Landes Baden-Württemberg also
nicht in der Lage zur Selbstkritik. Bezogen auf die fehlgeleiteten Ermittlungen gegen Sinti und Roma gab es von
offizieller Seite keinerlei Worte des Bedauerns, obwohl
sich diese Verdächtigungen als haltlos erwiesen und die
zuständige Staatsanwaltschaft die gegen die verdächtigten Sinti und Roma eingeleiteten Verfahren ausdrücklich
als falsche Spur einstellte. Damit wurde die öffentliche
Stigmatisierung der Minderheit bis heute nicht korrigiert.
Das übergeht auch entsprechende Forderungen des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Ebenso wenig wurden
die Bezichtigungen, die Opfer seien Teil der organisierten
Kriminalität, kritisch reflektiert. Alle der zahlreich vernommenen Polizeibeamten, die im seit Mai 2013 laufenden ‚NSU‘-Strafverfahren in München als Zeugen gehört
wurden, haben ihr damaliges Vorgehen nicht hinterfragt,
sondern auch noch unter dem Eindruck der Selbstenttarnung des ‚NSU‘ gerechtfertigt.«46
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hatte in
seinem Parallelbericht für den Staatenbericht beim
CERD eine ähnliche Kritik erhoben und erklärt, das
Institut betrachte die von den Untersuchungsausschüssen dokumentierten Ursachen des Versagens
bei der Aufklärung der Taten des NSU »als Indikatoren
systematischer Mängel bei der Bearbeitung rassistisch
motivierter Straftaten in Deutschland.« Die über Jahre
erfolglosen Ermittlungen seien »auch mit Einstellungsund Verhaltensmustern zu erklären, die auf rassistischen
Stereotypen basierten. Internationale und europäische
Menschenrechtsgremien zur Bekämpfung von Rassismus
und Nichtregierungsorganisationen hatten bereits in
der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass rassistisch
motivierte Gewalttaten in Deutschland durch Polizei und
Justiz nicht ausreichend erkannt werden.«47
Am 15. Mai 2015 hat das »UN-Committee on the Elimination of Racial Discrimination (CERD)« dann seine
abschließenden Empfehlungen für Deutschland
veröffentlicht. In dem 11-seitigen Dokument wird
zum NSU-Komplex festgestellt, dass institutioneller
Rassismus in Deutschland immer noch nicht erkannt
und benannt werde. Zudem zeigte sich die Kommission
besorgt und alarmiert angesichts der staatlichen Praxis
vgl. Ermittlungsverfahren in dem Mord zum Nachteil Michèle Kiesewetter, StA Heilbronn, AZ. 16 UJs 1068/07, Band 2, Bl. 14.
46
vgl. Parallelbericht zum 19.-22. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland an den UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer
Diskriminierung (CERD) Institutioneller Rassismus am Beispiel des Falls
der Terrorgruppe NSU (NSU) und notwendige Schritte, um Einzelne und
Gruppen vor rassistischer Diskriminierung zu schützen, eingereicht von
einer Gruppe von Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftler*innen
und Nebenklagevertreter*innen im NSU-Prozess am OLG München,
http://bit.ly/2xt6Z9o, S.5
47
vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte, Parallelbericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte an den UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD) im Rahmen der Prüfung des
19.-22. Staatenberichts der Bundesrepublik Deutschland, April 2015,
http://bit.ly/1Xfq8ED, S. 7s
45
in Bezug auf den Einsatz neonazistischer V-Leute.
Konkret heißt es unter der Überschrift »Institutional
shortcomings in investigating racially motivated acts«:
»(10.) Während die Kommission zur Kenntnis nimmt, dass
die Delegation (der Bundesrepublik Deutschland) die
Schwierigkeit auf staatlicher Seite bei der Durchführung
einer effektiven Aufklärung der von der NSU verübten
Mordserie einräumt, bleibt die Kommission dennoch
angesichts der Tatsache, dass die staatliche Seite es weiterhin versäumt, die eigenen systemischen Mängel und
das rassistische Motiv hinter diesen Taten zu erkennen,
besorgt. Hinter diesem Versäumnis könnte sich institutioneller Rassismus verbergen. Die Kommission ist über die
von Vertretern der Zivilgesellschaft vorgebrachten Informationen, nach denen von Ermittlungsbeamten während
der Ermittlungen beauftragte V-Leute selbst NSU-Unterstützer gewesen sind, beunruhigt. (...) Die Kommission
ist darüber besorgt, dass selbst der Bericht des mit der
Untersuchung des staatlichen Versagens beauftragten
Parlamentarischen Untersuchungsausschusses weder
spezifisch auf rassistische Diskriminierung noch auf
das rassistische Motiv für die begangenen Morde Bezug
nimmt. In der Gesamtheit scheinen all diese Elemente
auf eine strukturelle Diskriminierung als die eigentliche
Ursache für diese Probleme hinzudeuten (Art. 2, 5 und
6).«48
»Racial Profiling« als ein Ausdruck
von institutionellem Rassismus
»Racial Profiling« bezeichnet eine polizeiliche Praxis, die
das physische Erscheinungsbild, etwa Hautfarbe oder
Gesichtszüge, einer Person als Entscheidungsgrundlage
für polizeiliche Maßnahmen wie Personenkontrollen,
Ermittlungen und Überwachungen heranzieht. Infolge
von Gerichtsverfahren und einschlägigen Urteilen ist
diese Polizeipraxis in den vergangenen Jahren verstärkt
öffentlich diskutiert und kritisiert worden – sowohl von
Betroffenen als auch Wissenschaftler*innen und Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen wie Amnesty
International. Auch aus Sicht des Deutschen Instituts
für Menschenrechte ist es dringend erforderlich, dass
sich die Politik in Bund und Ländern der Problematik
des Racial Profilings annimmt.49 Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz hat im Oktober 2012 in
einem Fall von einer Personenkontrolle anhand von
Herkunftsmerkmalen durch die Bundespolizei eine
verbotene Diskriminierung nach Artikel 3 Absatz 3 GG
festgestellt. Auf dieses Urteil folgten im Untersuchungszeitraum des Ausschusses weitere Urteile beispielsweise des Verwaltungsgerichts Dresden zugunsten von
Betroffenen rassistischer Personenkontrollen durch die
Bundespolizei.50
vgl. Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung,
»Schlussbemerkungen zu den 19. bis 22. Staatenberichten der Bundesrepublik Deutschland«, nichtamtliche Übersetzung des BMJV, zum
Download unter: http://bit.ly/2y4HLmk
49
vgl. u.a. Deutsches Institut für Menschenrechte Studie «menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach §22 Abs.1a Bundespolizeigesetz,
http://bit.ly/2gniOIH
50
vgl. u.a. »Dieser Mann ist kein Taschendieb«, die tageszeitung vom 5.
Februar 2017, http://bit.ly/2ybTLC9
48
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