Dabei wäre ein Ende der Blockade angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Situation in Deutschland umso
wichtiger: Die Kontinuitätslinien zwischen dem Terror
der frühen 1990er Jahre, dem »Nationalsozialistischen
Untergrunds« (NSU) und aktuellen neonazistischen
Terrorstrukturen, die bislang lediglich in Ausnahmefällen überhaupt strafrechtlich belangt wurden, liegen vor
allem in einem mörderischen Rassismus. Ermöglicht
wird dieser Terror durch eine weitere Kontinuitätslinie:
Der ganz offensichtlich immer noch anhaltenden öffentlichen Verharmlosung militanter, organisierter Neonazis. Mehr als sechs Jahre nach der Selbstenttarnung
des mutmaßlichen NSU-Kerntrios sind Geheimdienste
und Strafverfolgungsbehörden ganz offensichtlich zum
»business as usual« übergangen und sehen den NSUKomplex offenbar als einmaligen Betriebsunfall ohne
Wiederholungsgefahr an.
Fehlende Konsequenzen bestärken neonazisti­
sche Gewalttäter
Die immens hohen Zahlen politisch rechts und rassistisch motivierter Gewalt seit 2015 zeigen jedoch
sehr deutlich: In dem Maß, wie organisierte Neonazis und rassistische Gelegenheitstäter*innen erkennen, dass ihr vordringlichstes Ziel – die Vertreibung
von Geflüchteten und Migrant*innen aus Deutschland – trotz aller Gesetzesverschärfungen nicht auf
parlamentarischem Weg durchgesetzt werden kann
und Teile des politischen und öffentlichen Diskurses
offen rassistische Vertreibungen von Geflüchteten
und Migrant*innen propagieren, wird die Zahl extrem
rechter, militanter Strukturen noch weiter zunehmen.
Dabei können sich die Neonazis von heute nicht alleine – wie schon die Täter*innen der frühen 1990er
Jahre – der aktuell in den sozialen Netzwerken, bei
»Nein zum Heim-Kundgebungen« oder bei den PegidaAufmärschen sehr offensiv geäußerten Unterstützung und Legitimierung versichern. Durch das geringe Ausmaß realer strafrechtlicher Konsequenzen für
die namentlich bekannten Unterstützer*innen des
NSU-Netzwerks fühlen sich die Brandstifter*innen
und Sprengsatzbauer*innen von heute zusätzlich
ermutigt. In der Neonazibewegung gibt es neben
Solidaritätsaufrufen mit Ralf Wohlleben und regelmäßigen Spendensammlungen für ihn eine Vielzahl
von Täter*innen, die sich positiv auf die Mord- und
Anschlagsserie des NSU beziehen – zum Beispiel in
Meißen (Sachsen), wo der Vermieter einer geplanten Flüchtlingsunterkunft u.a. einen Drohbrief eines
»Kommando Mundlos/Böhnhardt« erhielt und wenig
später - im Juni 2015 - ein Brandanschlag folgte, mit
dem das Haus unbewohnbar gemacht wurde.28

Vom Alltagsterror zu organisierten neonazisti­
schen Terrorstrukturen
In den vergangenen vier Jahren ist die Anzahl politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter
Straf- und Gewalttaten so hoch wie seit den frühen
1990er Jahren nicht mehr. Jeden Tag ereigneten sich
im Jahr 2016 mindestens fünf rechte Gewalttaten –
rassistische Gelegenheitstäter*innen griffen Geflüchtete oder Migrant*innen an, organisierte Neonazis
verübten Brandanschläge auf bewohnte und unbewohnte Unterkünfte von Geflüchteten und Autos von
Flüchtlingshelfer*innen. Insgesamt haben die Strafverfolgungsbehörden bundesweit in 2016 rund 23.550 so
genannte PMK-rechts Straftaten registriert – und damit
die höchsten Fallzahlen seit der Einrichtung eines neuen Meldesystems für politisch motivierte Kriminalität im
Jahr 2001. Auch die Anzahl politisch rechts motivierter
Gewalttaten war in 2016 mit 1.698 auf einem Höchststand seit Einführung des neuen Erfassungssystems im
Jahr 2001. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen in 2016 die
Zahlen der vom BKA und den Landeskriminalämtern
als politisch rechts motiviert erfasste Gewalttaten um
fast 15 Prozent an (2015: 1.485). Mehr als 1.280 Menschen
wurden dadurch verletzt. Erneut angestiegen sind insbesondere auch rassistisch motivierte Gewalttaten, die
von den staatlichen Behörden immer noch als »fremdenfeindlich« motiviert bezeichnet werden. Nur leicht
gesunken ist die Zahl der offiziell erfassten Brandanschläge auf Unterkünfte von Asylsuchenden: von 94 in
2015 auf 74 in 2016.
Dass die offiziellen Zahlen nur einen Ausschnitt der
Realität abbilden, machen die Statistiken der unabhängigen Opferberatungsstellen deutlich. Sie registrierten
im gleichen Zeitraum alleine für die sieben Bundesländer Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,
Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Thüringen insgesamt 1.948 politisch rechts motivierte
Gewalttaten (2015: 1.747 Fälle) und damit mindestens
fünf Angriffe pro Tag.29 Deutlich wird die Diskrepanz
auch in einer von den Nichtregierungsorganisationen
»Pro Asyl« und »Amadeu Antonio Stiftung« erstellten Bilanz von Straf- und Gewalttaten gegen Geflüchtete, die
für das Jahr 2016 durchschnittlich zehn rassistische Gewalttaten pro Tag feststellt.30 Oft ist es nur glücklichen
Zufällen zu verdanken gewesen, dass beispielsweise bei
Brandanschlägen auf bewohnte Flüchtlingsunterkünfte
in den letzten zwei Jahren keine Menschen starben.
Immer häufiger bewaffnen sich Neonazis und extreme Rechte wie die so genannten »Reichsbürger« mit
scharfen Waffen und Sprengstoffen.31 Wie schon in
den 1990-er Jahren beziehen auch die aktuellen Aktivisten der extremen Rechten ihre Waffen und ihren
Statistik rechter Gewalttaten in Ostdeutschland in 2016 u.a. veröffentlicht durch den Verein Opferperspektive e.V., http://bit.ly/2kxWj8a
30
Es hört nicht auf - Rechte Gewalt gegen Asylsuchende:
http://bit.ly/2yau44D
31
vgl. u.a. Kleine Anfrage der Abgeordneten Martina Renner (DIE LINKE)
u.a. »Waffen- und Sprengstofffunde in Deutschland 2015 und 2016«,
Antwort der Bundesregierung (BT-Drs. 18/12314) und Kleine Anfrage
»Waffenbesitz und Waffeneinsatz von und durch Neonazis« (BT-Drs.
18/7670, http://bit.ly/2yaB3dJ)
29

vgl. u.a. »Mindestens 259 Straftaten mit NSU-Bezug«, Zeit Online vom
14. August 2015, http://bit.ly/2y3NNmZ
28

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