Fraktionsvotum: Fraktion DIE LINKE
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt.
Artikel 1 Grundgesetz
Wir brauchen keinen Verfassungsschutz, sondern
wir brauchen Menschen, die ihre Verfassung selber schützen, sie ernst nehmen, weil Meinungs-,
Presse- und Demonstrationsfreiheit fundamentale
1. Vorbemerkung
Zentrale Aufgabe eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses ist es, das Handeln und die Verantwortung von staatlichen Organen und Behörden unter
die Lupe zu nehmen. Im NSU-Komplex bedeutet dies insbesondere, die Verantwortung von Verfassungsschutzbehörden zu untersuchen. Ebenfalls im Fokus steht das
Vorgehen der Ermittlungsbehörden vor und nach dem
4. November 2011 sowohl in Bezug auf mutmaßliche
Unterstützer*innen des NSU-Netzwerks als auch auf
neonazistischen V-Leute und eventuell strafbare Handlungen von Behördenmitarbeiter*innen aus den Verfassungsschutzämtern.
Im Wesentlichen wirft dieses Fraktionsvotum ein Schlaglicht auf den Stand der parlamentarischen Aufklärung im
NSU-Komplex knapp fünfeinhalb Jahre nach der Selbstenttarnung des mutmaßlichen NSU-Kerntrios. Es setzt
sich mit den zwei zentralen Ursachen der Staatsverantwortung für die Mord- und Anschlagsserie des Netzwerks NSU auseinander: Mit dem V-Leute-System der
Geheimdienste und der damit einhergehenden staatlichen Mitverantwortung für den Aufbau militanter und
terroristischer Neonazistrukturen. Und darüber hinaus
betont das Sondervotum erneut die Notwendigkeit,
institutionellen Rassismus als zentralen Faktor zu begreifen, der zum Scheitern der elf Jahre andauernden
Ermittlungen in der Česká-Mordserie führte. Institutioneller Rassismus trug entscheidend dazu bei, dass die
Angehörigen der NSU-Mordopfer sowie die Verletzten
der NSU-Anschlagsserie über Jahre stigmatisiert, sozial
ausgegrenzt und kriminalisiert wurden.
Die Feststellungen zu und Bewertungen von Sachverhalten aus der Beweisaufnahme und dem Untersuchungsausschuss vorliegenden Aktenmaterial im Fraktionsvotum der Fraktion DIE LINKE gehen zum Teil über die
gemeinsamen Bewertungen aller Fraktionen hinaus5 und
sie greifen Komplexe auf, die in den fraktionsübergreifenden, gemeinsamen Feststellungs- und Bewertungsteilen
entweder unterbelichtet oder gar nicht erwähnt sind.
Dies betrifft vor allem die massive Aufklärungsblockade
durch die Geheimdienste sowie im Detail die Rolle der
V-Leute im NSU-Komplex: In diesem Sondervotum geht
5
vgl. Dritter Teil: Kapitel Bewertungen des Untersuchungsausschusses
Freiheitsrechte sind. Wir brauchen Zivilcourage und
Menschen, die sich nicht einschüchtern lassen. Wir
brauchen Menschen, die gegen Nazis, Faschisten
und Rassisten arbeiten. Wenn jeder von uns einen
Schritt weiter geht, als er sich ursprünglich vorgenommen hat, dann mache ich mir auch keine Sorgen!
Angelika Lex (1958 – 2015),
Rechtsanwältin und Nebenklagevertreterin von Yvonne
Boulgarides anlässlich der Verleihung
des Georg-Elser-Preises 2015
es dabei insbesondere um den langjährigen Neonaziaktivisten M. alias V-Mann «Primus” des Bundesamtes für
Verfassungsschutz (BfV), den Zeugen Michael S. alias VMann «Tarif” des BfV sowie die weiteren so genannten
»T-Fälle«, das heißt Thüringer Neonazis und V-Leute des
BfV aus dem Umfeld der Unterstützer*innen von Uwe
Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität und den langjährigen Neonaziaktivisten Thomas R. alias V-Mann »Corelli«
des BfV. Ein weiterer Schwerpunkt des Sondervotums
betrifft die rechtlichen Aspekte und Bewertungen von
Aktenvernichtungen im BfV sowie die Verweigerung von
BfV und Bundesministeriums des Inneren, dem Untersuchungsausschuss zustehende Akten zu übergeben.
Verantwortung der Geheimdienste
Die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder – insbesondere Thüringen, Sachsen, Brandenburg
und Nordrhein-Westfalen – haben die bei den Geheimdiensten vorliegenden Informationen zum Auf- und
Ausbau militanter, mit Waffen, Sprengstoff und Rohrbomben bewaffneter neonazistischer Strukturen in den
1990er Jahren und nach der Jahrtausendwende sowohl
der Öffentlichkeit verschwiegen als auch in Teilen gegenüber den Strafverfolgungsbehörden zurückgehalten.
Dies betrifft insbesondere das Netzwerk des NSU, die
»Nationalrevolutionären Zellen« (NRZ), die »Nationale
Bewegung« (NaBe) sowie mehrere mit »Combat 18«
verbundene Gruppen u.a. in Dortmund und SchleswigHolstein.
Das Ergebnis des zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages belegt eindeutig, dass die
Inlandsgeheimdienste davon ausgingen, sie könnten militante Neonazi-Strukturen dadurch kontrollieren, dass
sie neonazistische Führungskader als V-Leute führen,
die dann im Übrigen auch noch in zahlreichen Fällen vor
Strafverfolgungsmaßnahmen geschützt wurden.6
So erklärte der ehemalige stellvertretende Leiter des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes Burkhard Schnieder am 20. August 2015
als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im nordrhein-westfälischen Landtag, »dass damals eine etwas andere Philosophie geherrscht
hat, Organisationen von oben herab zu steuern und sie zu befrieden oder
in irgendeiner Form unter Kontrolle zu bekommen«.
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