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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Michael Stübgen
(A) Prozess der Krisenlösung in diesem Ukraine-Konflikt zu
beginnen – es geht noch längst nicht darum, ihn abzuschließen; das wird Jahre dauern –, in der Ukraine, in
Kiew, liegt.
Das sind die harten Fakten: Die Ukraine hat eine der
schwächsten Wirtschaftsentwicklungen in ganz Osteuropa. Sie hat notwendige Reformen immer wieder aufgeschoben, die Rechtsstaatlichkeit steht infrage, und die
Korruption ist völlig frei – bis in höchste Regierungskreise hinein.
Die Ukraine ist auch ein multiethnisches Land. Neben
sehr vielen Minderheiten hat sie – das kommt erschwerend hinzu – zwei fast gleich starke Bevölkerungsgruppen: zum einen russischstämmige Ukrainer und zum
anderen Ukrainer, die in den Siedlungsräumen überwiegend auch noch getrennt leben.
Die Kluft zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen ist in den letzten Jahren wesentlich größer geworden. Nachhaltig kann die Ukraine aber nur leben, wenn
diese Kluft geringer wird und es Brücken über diese
Kluft gibt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Kollege Stübgen, darf Ihnen die Kollegin Beck eine
Zwischenfrage stellen?
Michael Stübgen (CDU/CSU):
(B)
Bitte, gerne.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Lieber Herr Kollege Stübgen, die Frage, die Sie eben
formuliert haben, diese faktische Zweigeteiltheit der
Ukraine, spielt in unserer Debatte eine große Rolle. Ich
bin nun sehr viel in der Ukraine gewesen und habe mit
Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, Parlamentariern und vielen anderen gesprochen und immer
wieder diese Frage gestellt. Es ist mir immer wieder gesagt worden – übrigens hat uns das gestern auch Josef
Zissels im Ausschuss wieder gesagt –: Die Linien zwischen diesen Gruppen verlaufen quer durchs Land. Sind
Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Maidan-Demonstrationen hat es in 50 Städten der
Ukraine gegeben, auch in Charkiw, auch in Donezk.
Diese Demonstrationen waren dort schwächer, auch weil
die Repression dort größer war und weil es dort eine größere Nähe zu Russland als in der Westukraine gibt.
Aber: Die Linien verlaufen quer und nicht längs entlang
des Dnepr. Es ist auf dem Maidan mehr Russisch als
Ukrainisch gesprochen worden. Ich möchte Sie bitten,
das zur Kenntnis zu nehmen. Wir sollten dieser Frage
gemeinsam stärker nachgehen, statt einer möglichen
Desinformation aufzusitzen, die Vorbereitung für eine
gewollte Teilung des Landes sein könnte.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Michael Stübgen (CDU/CSU):
(C)
Sehr verehrte Frau Kollegin, herzlichen Dank für Ihre
Zwischenfrage. – Sie gibt mir die Gelegenheit, ein mögliches Missverständnis richtigzustellen. Aufgrund der
Kürze meiner Redezeit wollte ich darauf nicht weiter
eingehen. Was Sie gesagt haben, stimmt grundsätzlich;
das ist richtig. Es stimmt allerdings auch, dass die Siedlungsräume in der Ukraine auch schon ziemlich getrennt
sind. Und es ist so, dass es einen asymmetrischen Konflikt zwischen russischstämmiger Bevölkerung und der
ukrainischen Bevölkerung gibt. Dieser Konflikt hat
– auch Sie wissen das mit Sicherheit sehr genau – historische Gründe, die ich hier nicht alle anführen kann.
Für mich ist Folgendes wichtig: Wir konnten in den
letzten Jahren beobachten, dass bei Wahlen entweder die
Bevölkerung der Westukraine – Sie wissen, dass ich das
so genau nicht meine – eher die Regierung stellte oder,
wenn es kippte, die andere Seite die Regierung übernommen hat. Jedes Mal, wenn eine Gruppe die Regierung hatte, hat sie alles dafür getan, um die andere
Gruppe zu schwächen. Auf diesen Punkt will ich hinaus:
Wenn ein Land so kompliziert strukturiert ist – dafür
kann die Ukraine nichts; das hat historische Gründe –,
dann hat dieses Land nur eine Chance, nämlich zu versuchen, diese Gräben zu überwinden. – Herzlichen Dank.
Das war meine Antwort.
Ich glaube, es ist richtig, nachhaltig zu fordern, dass
in der Ukraine neben der notwendigen Präsidentschaftswahl am 25. Mai – wir wissen allerdings, dass die dann
stattfindenden Wahlkämpfe wie in jedem anderen demokratischen Land der Welt nicht unbedingt deeskalierend
(D)
wirken werden – sehr bald auch der Verfassungsprozess,
also die Neubestimmung einer Verfassung bzw. die Reform der vorhandenen Verfassung, einschließlich grundlegender Wirtschafts- und Sozialreformen, begonnen
werden muss.
Ich halte das für absolut notwendig. Es ist so, dass ich
im Moment in der Ukraine – das ist verständlich, weil
der Druck auf die Politiker in der Ukraine enorm hoch
ist – dafür zu wenig Ansätze finde. So wichtig es ist,
dass wir die Ukraine unterstützen, so wichtig ist es auch,
dass die europäische Politik, aber auch die Bundesregierung und wir als Deutscher Bundestag die Ukraine dazu
drängen und dabei unterstützen, ihr Land zu reformieren,
sodass es nachhaltig lebensfähig werden kann. Dann besteht zum Beispiel auch die Chance, dass die KrimFrage auf lange Sicht ganz anders gestellt wird, als das
bisher der Fall ist.
Ich will mit Folgendem schließen: Für mich hat fast
kein anderer Satz so entscheidend gewirkt – bis 1990
und danach – wie der alte Art. 23 des Grundgesetzes von
1949, den wir 1990 aufheben konnten. Mit Deutschland
hat es sich ähnlich wie jetzt mit der Ukraine verhalten,
dass sich nämlich Deutschland erst einmal ohne die ostdeutschen Länder strukturiert und den Anspruch auf eine
Wiedervereinigung nie aufgegeben hat. Nach Jahrzehnten konnte dieser Anspruch erfüllt werden. Auch das
könnte für den Umgang der Ukraine mit der Krim innerhalb dieses Verfassungsprozesses beispielgebend sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.