Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

1769

Norbert Spinrath

(A) Option einer Zusammenarbeit mit der Europäischen
Union und mit Russland.
(Beifall bei der SPD)
Das Hilfspaket trägt in erheblichem Maße zur Stabilisierung der Situation in der Ukraine bei. Die Ukraine
darf nicht allein gelassen werden. Die Reste an staatlicher Ordnung dort dürfen nicht aufgrund von Zahlungsunfähigkeit zusammenbrechen. Die wirtschaftliche
Grundlage für das Leben der Menschen muss erhalten
bleiben. Genau dieselbe Bevölkerung, die sich monatelang in überwiegend friedlichen Protesten ihren Weg zur
Freiheit und Souveränität erkämpfen wollte, darf in der
Ukraine nicht zum wirtschaftlichen Opfer werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der
Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die Auszahlungen des Hilfspakets müssen an eindeutige Bedingungen geknüpft werden. Das heißt für mich
insbesondere, dass die Konditionen des von den Außenministern des Weimarer Dreiecks vermittelten Abkommens vom 21. Februar schnellstmöglich eingelöst
werden müssen: Entwaffnung von Milizen, Präsidentschaftswahlen am 25. Mai, Bildung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit und vor allen Dingen eine
zügige Verfassungsreform. Aus meiner Sicht müssen daran anschließend ganz schnell Neuwahlen des Parlaments durchgeführt werden. Daneben ist es unerlässlich,
die Verwaltung neu aufzubauen, und zwar basierend auf
den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, und die überbor(B) dende Korruption zu bekämpfen.
Die Inkraftsetzung des politischen Teils des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine ist
kein zwingender Bestandteil der Hilfsangebote. Dennoch ist es ein notwendiges Fundament, weil sie auf
Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, Reformpakete auferlegt
werden können und Vertrauen geschaffen werden kann.
Ich sage aber auch ganz deutlich: Zur Stabilisierung der
maroden Staatsfinanzen der Ukraine müssen auch diejenigen herangezogen werden, die in den letzten Jahren
auf mehr als fragwürdige Weise, auf kriminelle Weise,
das Volk geschädigt und rechtswidrig Vermögen angehäuft und außer Landes geschafft haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
In der Ukraine bedarf es dringend Reformen, die diese
hemmungslose Selbstbedienung und das ungeheuerliche
Ausmaß an Korruption in Zukunft verhindern. Die rücksichtslose Ausbeutung des Volkes war nicht unmittelbarer Auslöser, aber Beweggrund für die Protestbewegung
auf dem Maidan.
Wir sollten alles daransetzen, den Reformprozess in
der Ukraine zu begleiten und zu unterstützen. Die Verhältnisse müssen sich grundlegend ändern, ansonsten
werden sich die Menschen irgendwann wieder auf den
Weg machen, nämlich zum Maidan. Das sollte auch
Russland zu denken geben. Die gestiegenen Popularitätswerte des Staatspräsidenten werden schnell verblas-

sen. Russland muss nun wieder zum politischen Dialog (C)
und zur Diplomatie zurückkehren, idealerweise in einer
internationalen Kontaktgruppe. Noch sind die Korridore
dafür offen.
Zum Schluss gebe ich zu bedenken, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Wenn die Menschen in Russland mit der
Zeit erkennen, dass sich ihre Regierung international ins
Abseits manövriert und isoliert hat, dann werden auch
sie sich mehr und mehr Fragen stellen. Die Menschen in
Russland werden sich nicht nur politisch, sondern auch
wirtschaftlich als Opfer sehen. Sie werden merken, dass
ihnen die bisherige Politik schadet. Eine solche Zuspitzung kann nicht im Interesse der russischen Regierung,
erst recht nicht im Interesse der Menschen sein. Mit einer solchen Zuspitzung läuft Russland Gefahr, dass vielleicht auch seine Bürger eines Tages zu ihrem eigenen
Maidan aufbrechen, dem Roten Platz in Moskau.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:

Marieluise Beck ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst den verehrten Josef Zissels begrüßen,
der unsere Debatte auf der Tribüne verfolgt.

(Beifall)
Er kommt aus der Ukraine und ist Vorsitzender des (D)
Euro-Asian Jewish Congress und damit Vertreter des
Dachverbandes von etwa 300 jüdischen Gemeinden.
Ich möchte zu Beginn meiner Rede an den Satz anknüpfen, Herr Spinrath, mit dem Sie geendet haben. Es
geht um die Furcht von Präsident Putin, dass sich die Ereignisse auf dem Maidan eines Tages auch auf dem Roten Platz abspielen könnten. Wie werden in den kommenden Wochen und Monaten vermutlich erleben, dass
alle russischen Demokraten, die in der russischen Zivilgesellschaft arbeiten, einem zunehmenden Druck ausgesetzt sind, weil genau diese Furcht die Politik im Kreml
mitbestimmt. Wir müssen doch ehrlich feststellen, dass
wir alle fassungslos sind, mit welcher Kaltblütigkeit ein
Schritt vor den anderen gesetzt worden ist, während wir
immer wieder diplomatische Angebote unterbreitet
haben. Es gab verschiedene Kompromissangebote, verschiedene Treffen und Gespräche – es gab Gespräche
mit Lawrow, und die Kanzlerin hat mit Putin telefoniert –;
trotzdem gab es gar keine Möglichkeit, Putin von diesem
dramatischen Völkerrechtsbruch und einer Annexion,
die es seit 1945 in Europa nicht mehr gegeben hat, abzubringen.
(Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Das ist
falsch! Jugoslawien!)
Ich möchte gerne noch einmal daran erinnern: Zu der
Östlichen Partnerschaft wurde Russland eingeladen.
Hier, in diesem Haus, haben wir über Jahre hinweg gesagt, dass wir eine strategische Partnerschaft mit Russ-

Select target paragraph3