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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Thomas Oppermann (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand
zweifelt daran, dass sich dieser Gipfel neben den wichtigen wachstums- und wirtschaftspolitischen Fragen mit
einer der schwersten Krisen befassen muss, die es in den
letzten Jahrzehnten auf unserem Kontinent gegeben hat.
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat in Europa ein Staat eigenmächtig seine Grenzen neu definiert
und einen Teil des Gebietes eines anderen Staates unter
Verstoß gegen das Völkerrecht annektiert. Das zeigt,
dass die europäische Friedensordnung alles andere als
selbstverständlich ist, und es zeigt, dass wir jetzt alles
dafür tun müssen, dass wir nicht in die Denkmuster und
Handlungsstrukturen des Kalten Kriegs zurückfallen.
Dieser Konflikt darf nicht weiter eskalieren.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Deshalb bin ich froh, dass die Bundeskanzlerin und
der Bundesaußenminister so entschieden und so besonnen agieren. Ihrer Umsicht und ihrem klaren Kurs ist es
zu verdanken, dass das Blutvergießen auf dem Maidan
gestoppt werden konnte und dass die Gewalt in der
Ukraine nicht weiter ausgeufert ist. Dafür möchte ich Ihnen im Namen der SPD-Fraktion ganz herzlich danken.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
In seiner Rede am Dienstag hat Wladimir Putin die
Russen als „das größte geteilte Volk der Welt“ bezeich(B) net. Damit bezieht er sich ganz offensichtlich auf die
russischen Minderheiten in den Nachfolgestaaten der
Sowjetunion. Wenn sich hinter diesen Worten aber eine
neue Putin-Doktrin nach dem Motto „Überall wo Russen
leben, ist auch Russland“ verbergen sollte, dann verhieße das nichts Gutes.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Berlin-Charlottenburg!)
Denn das liefe auf ein automatisches Interventionsrecht
hinaus, sobald Wladimir Putin die Interessen im Ausland
lebender Russen bedroht sieht. Ein solches Recht gibt es
nicht, meine Damen und Herren. Ein solches Recht kann
es gar nicht geben.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Wladimir Putins Rede war aber auch ambivalent. Er
sucht förmlich nach Argumenten, um das Referendum
auf der Krim und die anschließende Annexion durch
Russland zu rechtfertigen. Überzeugend war das nicht.
Unsere Haltung ist eindeutig: Die faktische Besetzung,
das eilige Referendum und die Annexion der Krim sind
nach Auffassung der internationalen Staatengemeinschaft klar verfassungswidrig; sie sind völkerrechtswidrig, und sie sind politisch brandgefährlich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung das Er- (C)
gebnis des Referendums und die Annexion nicht anerkennt.
Das Referendum verstößt gegen ukrainisches Verfassungsrecht. Weder die alte noch die neue Verfassung erlauben ein Referendum in einem Landesteil ohne Berücksichtigung der Interessen des Zentralstaates. Im
Übrigen hat das Referendum unter der Bedingung einer
Besatzung und mit der klaren Absicht Russlands stattgefunden, sich die Krim einzuverleiben, und dies, obwohl
Russland in Verträgen mehrfach die bestehenden Grenzen und die politische Unabhängigkeit der Ukraine zugesichert hat: im Budapester Memorandum von 1994 wie
auch im bilateralen Vertrag von 1997.
Insbesondere der Bruch des Budapester Memorandums ist verheerend, weil es der Ukraine explizite
Sicherheitsgarantien im Gegenzug für die Rückgabe ihrer Atomwaffen gab.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es! –
Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: So ist es!
Genau so!)
Russland war einer der Signatarstaaten. Wie wollen wir
jemals wieder einen Staat zum Verzicht auf seine Nuklearwaffen bewegen, wenn solche Garantien das Papier
nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind?
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Wladimir Putin praktiziert das Recht des Stärkeren. (D)
Er nutzt seine militärische Übermacht für die Einverleibung eines fremden Staatsgebietes. Die Annexion ist
eindeutig völkerrechtswidrig. Das sieht auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen so, und Sie ja auch, Herr
Gysi. Aber wenn Sie dann den Völkerrechtsbruch, der
dort begangen worden ist, mit Hinweis auf tatsächliche
oder angebliche Völkerrechtsverstöße durch andere relativieren, dann finde ich das allerdings unerträglich. Das
zeigt, dass Ihre Kritik nicht ernst gemeint ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]:
Schröder sagt das so!)
Große Sorge bereitet auch Russlands Begründung für
dieses Vorgehen. Es beruft sich auf den Willen der auf
der Krim lebenden russischen Bevölkerung und geriert
sich damit als deren Schutzmacht. Dass Grenzen unter
Berufung auf den Schutz von Minderheitenrechten und
auf ethnische Gesichtspunkte neu gezogen werden, ist
nicht akzeptabel. Das internationale Recht stellt dafür
angemessenere Mittel zur Verfügung. Eigentlich sollte
gerade Russland wissen, welche Folgen sein bisheriges
Vorgehen für einen Vielvölkerstaat haben kann. Die dortigen Ethnien werden die Entwicklung auf der Krim sehr
genau beobachten und sich hierauf berufen. Wladimir
Putin, spätestens aber sein Nachfolger, wird mit den
Geistern, die er rief, fertig werden müssen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)