Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
IX.
– 21 –
Drucksache 18/12585
Sondervotum des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele
gemäß § 10 Abs. 2 PKGrG
(18. April 2017)
Meine Bewertung ist schrecklich schlimm, besonders für die Angehörigen der Ermordeten und die Verletzten.
Die Sorge um Sicherheit ist berechtigt. Der bisher schwerste Terroranschlag in Deutschland am 19. Dezember
2016 hätte nicht nur verhindert werden können, sondern hätte auch verhindert werden müssen. Aber die Sicherheitsbehörden haben versagt. Die Bundesregierung ist verantwortlich für das Versagen der Bundesbehörden.
Es gibt eine neue Dimension der Gefährlichkeit, die die Bundesregierung uns und der Öffentlichkeit systematisch
verheimlicht hat. Diese folgt aus der Überwachung der geschützten Telegram-Chat-Kommunikation des Gefährders AMRI schon seit Dezember 2015. Am 2. Februar 2016 spricht er dort über seinen Wunsch einer „Heirat“
und benutzt das persische Wort „Douqma“. Beide Worte werden vom IS als Bezeichnung für einen Selbstmordanschlag benutzt. Der Chat-Partner, mutmaßlich ISIS-Kämpfer oder Kommandeur im lybischen Kampfgebiet, rät
ihm, sich an einen zuständigen Bruder zu wenden und zu sagen, dass er der „Religion Gottes dienen wolle“. Er
wünscht, dass beide im „Paradies vereint werden“. Die Chatverläufe lassen sich dahin deuten, einen geneigten
Selbstmordattentäter in blumiger Sprache auf seinen Weg zu führen und zu bestärken. Darauf deuten auch die
Worte „auf den Knopf drücken“ und das Codewort „Dugma“ (so der Sachverständigen der nordrhein-westfälischen Landesregierung, Prof. Dr. Kretschmer, in seinem Bericht vom 27. März 2017, S. 8, 40; siehe auch zugehörige Chronologie S. 7 [https://mbem.nrw/de/node/4138 ]). Das Gespräch führte AMRI im Chatprogramm Telegram unter libyschen Telefonnummern. Er bittet um Hilfe, um einen Selbstmordanschlag in Deutschland zu
begehen. Der Chat-Partner, von dem die Ermittler vermuteten, dass es sich um einen tunesischen Verwandten
AMRIs im Kampfgebiet in Libyen handelte, rät, sich an den „Bruder“ zu wenden, der das Nötige bereitstellen
und ihn dirigieren werde. Allah werde sie im Paradies vereinen (DIE WELT 28. März 2016).
Ich habe keinen Grund, an diesen Angaben zu zweifeln. Der Chat-Verkehr liest sich wie ein Stück aus dem Lehrbuch der Kriminalistik über konspirative Kommunikation des IS.
Wenn ein bekennender Islamist wie Anis AMRI, der die Anschläge des IS gutheißt und immer wieder versucht,
Unterstützer für Attentäter zu finden, sich „Schnellfeuergewehre“ für einen Anschlag beschaffen, dann mit ISKämpfern im Kampfgebiet in Libyen höchst konspirativ unter Nutzung islamischer Formulierungen telefoniert,
um Rat und Hilfe für einen „Duqma“, also einen Selbstmordanschlag, nachsucht, dann hat AMRI nicht nur eine
ausländische terroristische Vereinigung unterstützt. Vielmehr lagen dann konkrete Tatsachen aus mehreren verschiedenen Quellen für den dringenden Verdacht einer Mitgliedschaft im IS vor. Die Einleitung eines Verfahrens
wegen des Verdachts nach § 129b StGB war geboten. Zumindest aber hätte dieser Top-Gefährder ständig
beobachtet und unter Kontrolle gehalten werden müssen.
Vor allem wegen dieser Erkenntnisse wurde AMRI zu Recht als Gefährder eingeschätzt. Aber in der von der
Bundesregierung am 11. und 19. Januar 2017 vorgelegten Chronologie findet sich zum höchstbrisanten Inhalt des
Chat-Verkehrs nichts. Die Bundesregierung tat gegenüber Parlament und den zuständigen Ausschüssen und Gremien so, als lege sie dieses Mal alle ihre Erkenntnisse zum Fall AMRI rückhaltlos vor. Aber die Chats werden
nicht erwähnt, sondern komplett verschwiegen.
Allen befassten Sicherheitsbehörden waren die „Chats“ als Grund bekannt, warum AMRI am 17. Februar 2016
als „Gefährder“ eingestuft wurde.
Für die Täuschung von Parlament und Öffentlichkeit ist die Bundesregierung verantwortlich. Unwahrheit ist auch,
wenn man nicht die ganze Wahrheit sagt, ohne darauf hinzuweisen, dass etwas Wichtiges fehlt.
Die zuständigen Minister in Nordrhein-Westfalen und im Bund müssen die Verantwortung übernehmen für
die eklatanten Fehler im Fall AMRI.
Ich stelle fest:
GBA und BKA haben ihre Aufgaben und Pflichten zur Verhinderung und Verfolgung terroristischer Straftaten nicht erfüllt, als sie die Übernahme des Falles AMRI in federführender Zuständigkeit ablehnten. Entscheiden sie sich gegen die Übernahme eines Falles, sollten sie – wenn mehrere Bundesländer betroffen sind
– zumindest darauf hinwirken, dass eine Länderbehörde Strafverfolgung und Gefahrenabwehr in einem Land
in einem Sammelverfahren federführend übernimmt. BfV und Länderpolizeien müssen dem übernehmenden
Land dann ihre Erkenntnisse in jedem Fall der Übernahme GBA/BKA bzw. StA/LKA unverzüglich und
vollständig zur Verfügung stellen.