Tatsächlich ist statistisch ein Anstieg rassistisch motivierter Gewalttaten gegen Schwarze Deutsche, Asylsuchende und Migrantinnen und Migranten immer dann
nachweisbar, wenn in medialen und politischen Diskursen Flüchtlinge und Migranten rassistisch diffamiert
und ausgegrenzt werden.
Um rassistischen Stammtischdiskursen und Schlägern
gleichermaßen den Nährboden zu entziehen, sind mehrere Sofortmaßnahmen zwingend notwendig:
d) Opfer rassistischer Gewalt ohne Aufenthaltsstatus
bzw. mit einer Duldung sollten durch eine neue Regelung in § 25 des Aufenthaltsgesetzes ein humanitäres
Bleiberecht erhalten. Mit einer solchen Regelung im
Aufenthaltsgesetz wäre ein klares Signal an die Täterinnen und Täter derartiger Angriffe sowie deren
Umfeld verbunden: dass ihrer politischen Zielsetzung »Ausländer raus« explizit entgegen getreten
und ihr Ziel der Vertreibung vereitelt wird, indem
Vertreter*innen des Staates auch materiell für die
Angegriffenen Partei ergreifen. In den vergangenen
Jahren haben die Innenminister von Brandenburg,
Thüringen und Berlin unterschiedliche BleiberechtsVerordnungen angekündigt und teilweise auch umgesetzt. Es bedarf jedoch einer bundesweit gültigen
klaren und verlässlichen gesetzlichen Regelung. Denn
nach der bisherigen Praxis wäre auch Mehmet Turgut,
wenn er die Schüsse des NSU überlebt hätte, so wie
sein Bruder Yunus kurz nach der Tat aus Deutschland
abgeschoben worden. Mehmet und Yunus Turgut
waren wegen ihrer kurdischen Herkunft in den 1990er
Jahren in der Türkei verfolgt und nach Deutschland
geflohen, erhielten hier aber kein Asyl und lebten bis
zu Mehmet Turguts Ermordung am 25. Februar 2004
in Rostock – wie viele tausende andere Menschen –
ohne einen Aufenthaltstitel in Deutschland.
e) D
ie von den Betroffenen und zahlreichen Menschenund Bürgerrechtsorganisationen wie »Pro Asyl«, der
»Humanistische Union« und dem »Republikanischer
Anwältinnen- und Anwälteverein« (RAV) schon lange
geforderte sofortige Abschaffung der Residenzpflicht
muss sofort umgesetzt werden - und damit einhergehend das Recht auf Bewegungsfreiheit und freie Wahl
des Wohnorts für Asylsuchende und so genannte »Geduldete«, die nicht abgeschoben werden können und
dürfen. Damit würde ein universelles Menschenrecht
auf Bewegungsfreiheit für Asylbewerberinnen und -bewerber in Deutschland endlich wieder hergestellt, das
den Betroffenen von der SPD/FDP-Koalition 1982 zu
»Abschreckungszwecken« entzogen wurde und seitdem
allein aus diesem Grund verwehrt wird. Zudem ist die
Kontrolle und Durchsetzung der Residenzpflicht in der
Praxis mit rassistischen Polizeikontrollen verbunden.
Asylsuchende werden in Regionalzügen und auf Bahnhöfen besonders häufig kontrolliert und bei Verstößen
gegen die Residenzpflicht auch abgeführt – und damit
in aller Öffentlichkeit als vermeintliche »Straftäter«
markiert. Verstöße gegen die Residenzpflicht werden in der polizeilichen Kriminalstatistik erfasst und
lassen damit die »Kriminalität« von Nicht-Deutschen
als erhöht erscheinen205. Dies befestigt das Vorurteil
vermeintlich besonders »krimineller Ausländer«.
f) E in Ende der zwangsweisen Unterbringung von Asylsuchenden und Geduldeten in so genannten »Gemeinschaftsunterkünften«, die vor allem einen Effekt
haben: Aus einer kleinen Gruppe und Minderheit eine
vermeintlich große Masse zu machen, die dadurch
vor allem in kleineren Orten und Gemeinden als
»Bedrohung« wahrgenommen und als »die Anderen«
kenntlich gemacht und stigmatisiert wird.
g) E ine ähnlich negative Wirkung wie die Residenzpflicht hat das so genannte Sachleistungsprinzip des
Asylbewerberleistungsgesetzes: Wenn Asylsuchende nur in bestimmten Geschäften und / oder nur
mit Wertgutscheinen einkaufen dürfen, werden sie
als Menschen mit minderen Rechten stigmatisiert.
Längere Warteschlangen beim Einkauf infolge der
komplizierten Abrechnung von Wertgutscheinen
provozieren Ärger und Wut gegen die vermeintlichen
»Störenfriede«.
h) E in Ende des neunmonatigen Arbeits- und Ausbildungsverbots für Asylbewerberinnen und Asylbewerber und die Abschaffung der so genannten Vorrangprüfung beim Arbeitsmarktzugang ist ebenfalls
geboten.
Eine Umsetzung dieser Sofortmaßnahmen ist notwendig, um Asylsuchenden und so genannten Geduldeten
eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und
populistisch-rassistischen Kampagnen den Nährboden
zu entziehen.
5) Rechte von Migrant*innen stärken –
Ausgrenzung beenden
Auch die politischen Teilhaberechte von in Deutschland
lebenden Migrantinnen und Migranten müssen gestärkt
werden.
Studien zufolge stimmen zwei Drittel der deutschen
Bevölkerung der Aussage »Die Ausländer kommen nur
hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen« ganz
oder teilweise zu. Diese erschreckend hohen Werte
sind auch Folge offizieller Regierungspolitik, die sich
in der Migrationspolitik immer wieder auf das Motto
einer »Verhinderung der Zuwanderung in die deutschen
Sozialsysteme« bezieht und Gesetzesverschärfungen
damit begründet. Die grundlegenden Rechte von Menschen dürfen aber nicht unter Kostenaspekten beurteilt
werden. Solche Politikansätze befördern Konzepte und
Vorstellungen der Ungleichheit, an die extreme Rechte
nahtlos anknüpfen können. Ähnliches gilt für vorurteilsschürende Kampagnen gegen eine vermeintlich verbreitete »Integrationsverweigerung«, für die es keinerlei
empirische Belege gibt.206
Laut Beate Selders (»Keine Bewegung! Die ‚Residenzpflicht‘ für Flüchtlinge – Bestandsaufnahme und Kritik«, Berlin 2009) geht etwa ein Viertel
aller ausländerrechtlichen Delikte auf Verstöße gegen die Residenzpflicht
zurück.
206
Vgl. dazu BT-Drs. 17/5693 und 17/4798
205
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