Molotow-Cocktails werfende Naziskins und Neonazis
unter dem Beifall von knapp 3.000 Zuschauer*innen ein
Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen
in Brand. Knapp 120 Menschen, darunter vietnamesische Kinder, Frauen und Männer sowie ein ZDF-Kamerateam und der langjährige Rostocker Integrationsbeauftragte entkamen den Flammen in letzter Minute.155
Bis heute ist ungeklärt, ob und inwieweit die Inlandsgeheimdienste über die Neonazimobilisierung und die
Planungen für das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen
informiert waren. Der damalige Präsident des BKA,
Hans-Ludwig Zachert, hatte gegenüber Medien betont,
die Randale sei »organisiert und gesteuert« worden und
wurde dafür von mehreren Verfassungsschutzpräsidenten massiv kritisiert. Eine »überregionale Steuerung«
habe es nicht gegeben, behauptete etwa der damalige
Präsident des BfV, Eckhart Werthebach, sekundiert
vom Hamburger Verfassungsschutz-Präsidenten und
späteren BND-Präsidenten, Ernst Uhrlau, der von einer
»hausgemachten Randale« sprach.156
Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen markierte den
Beginn eines rassistischen Flächenbrandes. Es veränderte die bundesrepublikanische Gesellschaft. Die
Botschaft, dass Migrant*innen und Geflüchtete keinen
Schutz des Staates erhalten würden und entsprechend
auch schwerste Straftaten für die Täter*innen folgenlos bleiben würden, formte das Selbstbewusstsein der
»Generation Terror« und ihrer Netzwerke wie den »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU). Eine bis dahin
nicht vorstellbare Kultur der Straflosigkeit radikalisierte
die Täter*innen nicht nur von Rostock-Lichtenhagen,
sondern hunderter nachfolgender Überfälle, Brand- und
Sprengstoffanschläge auf migrantische Wohnhäuser,
Flüchtlingsheime, linke Zentren, besetzte Häuser und
Wohnungen politischer Gegner*innen. Auch das mutmaßliche NSU-Kerntrio und seine Unterstützer*innen
bezogen ihr Selbstbewusstsein aus diesem Erfahrungswissen der Straflosigkeit auch für schwerste Straftaten.
Und die in dieser Generation sozialisierten rechten
Attentäter von heute knüpfen ideologisch und bei der
Wahl ihrer Aktionsformen unmittelbar an ihre Erfahrungen in den 1990er Jahren an.
Schon 1997 hatte das Bundeskriminalamt in einem so
genannten »Thesen-Papier« das V-Leute System, das die
Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder in der Neonazibewegung der 1990er Jahre installierten, massiv kritisiert: »Die Mehrzahl der Quellen« seien
»überzeugte Rechtsextremisten«. Bei diesen entstünde
»der Eindruck, unter dem Schutz des VS im Sinne
ihrer Ideologie ungestraft handeln zu können und die
Exekutive nicht ernst nehmen zu müssen«, kritisierten
hochrangige BKA-Beamte.157
vgl. »Gesteuerter Volkszorn« in: die tageszeitung vom 22.6.2002,
http://bit.ly/2y6i6Hk
156
vgl. u.a. »Der NSU und rassistische Gewalt in NRW in den 1990er
Jahren« in Dostlu Sinemasi (Hg.): Vom »Mauerfall zur Nagelbombe - Der
NSU-Anschlag im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger
Jahre«, Berlin 2014, http://bit.ly/2yTpMf0
157
BT-Drucksache 17/14600 dokumentiert das BKA-Thesenpapier ausführlich ab S. 218 im Unterkapitel »Problematisierung der Verfassungsschutz-Quellenführung durch das BKA«; vgl. auch Der Bardnstifter-Effekt«
155
52
Im Rückblick erscheint der Sprung der überschaubaren
Neonaziszene der 1990er Jahre zur sozialen Bewegung
mitsamt parlamentarischer Repräsentanz durch die
NPD in zeitweise zwei Landtagen und vor Ort fest
verankerten Strukturen ohne das V-Leute-System
undenkbar. Denn erst die Übernahme von monatlichen
Handyrechnungen durch Verfassungsschutzämter,
der Kauf von Autos, die Anmietung von Szene-Läden,
die monatlichen steuerfreien Zahlungen, die quasi ein
Grundgehalt darstellten, ermöglichten es Neonazis wie
Kai D. als Vollzeitaktivisten überall im Land die NeonaziStrukturen aufzubauen, mit denen Zivilgesellschaft und
die Strafverfolgungsbehörden gleichermaßen bis heute
konfrontiert sind. Der bayerische Verfassungsschutz
zahlte seinem V-Mann Kai D. bis 1998 800 D-Mark monatlich – und zusätzlich dessen Ausgaben im Zusammenhang mit seinen Aktivitäten im »Thule-Netz.« Auf
mindestens 150.000 D-Mark schätzen Journalist*innen
die steuerfreien Einnahmen von Kai D. aus seiner Zeit
als V-Mann.158
Die fatale Wirkung des Prinzips »Quellenschutz vor
Strafverfolgung« setzt sich im NSU-Komplex sowohl in
den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen als
auch im Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten am OLG München nahtlos fort. Auch hier
ist der Fall von Kai D. exemplarisch. Noch immer ist
davon auszugehen, dass die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse keine vollständige Einsicht in die
unzähligen Treffberichte und Quellenberichte bekommen haben, die das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz in den zwölf Jahren der V-Mann Tätigkeit
von Kai D. erstellt hat. Noch immer ist völlig ungewiss,
ob Kai D. seinen V-Mann Führern detailliert über die
Radikalisierung der thüringischen Neonaziszene und
des NSU-Kerntrios berichtet hat – oder ob er dieses
Wissen gegenüber seinen behördlichen Auftraggebern
verschwiegen hat.
Als Zeuge im Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre
vier Mitangeklagten vor dem OLG München räumte Kai
D. im November 2014 zwar ein, dass er über Jahre regelmäßig an Treffen und Aktionen des »THS« teilgenommen und seine eigenen Aktivitäten eng mit seinen VMann Führern abgestimmt habe. Dementsprechend sei
er auch davon ausgegangen, dass Tino Brandt, der VMann des Thüringischen Landesamtes für Verfassungsschutz, mit dem Kai D. bei »GdNF-Führer-Treffen« saß
und der Kontakt zum engsten Unterstützer*innenkreis
des NSU-Kerntrios hielt, ebenfalls seine politischen
Aktionen und die Militarisierung der Neonaziszene in
Thüringen mit dem dortigen Verfassungsschutz abgestimmt habe.
Doch an eigene Kenntnisse von eben dieser Militarisierung und Bewaffnung der Neonazistrukturen in Thüringen wollte sich Kai D. als Zeuge vor Gericht nicht mehr
des Verfassungsschutzes, in: Antifaschistisches Infoblatt 4/2013,
http://bit.ly/1fN8pB4: »Ein Burschenschaftler im Dunstkreis des Verfassungsschutzes«, ZEIT online vom 10. Januar 2014,
http://bit.ly/2hX7lmJ
158 vgl. Julia Jüttner »Lukrative Spitzelhonorare: Nebenjob V-Mann« in
Spiegel Online, 13.2.2013, http://bit.ly/2xsscoX