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19.1.3 Gutachten während des
Gerichtsverfahrens
Die Einholung eines Gutachtens durch eine Berufsgenossenschaft während eines anhängigen Gerichtsverfahrens
ist aus datenschutzrechtlicher Sicht unzulässig und verfahrensrechtlich unnötig.
Im Berichtszeitraum war ich mit einer Vielzahl von Eingaben befasst, in denen Versicherte vortrugen, ihre Daten
seien im Rahmen eines anhängigen sozialgerichtlichen
Verfahrens an einen Gutachter übermittelt worden, der
auf dieser Grundlage der Berufsgenossenschaft ein Gutachten erstattet habe. In keinem der Fälle wurde den Versicherten ein Widerspruchsrecht gegen die Übermittlung
ihrer Daten gewährt.
Die Regelung des § 200 Abs. 2 SGB VII, mit der der Gesetzgeber die Mitwirkungsrechte der Versicherten stärken
und die Transparenz des Verfahrens erhöhen wollte, ist
von den Berufsgenossenschaften auch dann anzuwenden,
wenn sie während eines anhängigen Gerichtsverfahrens
unter Verwendung der Daten eines Versicherten ein Gutachten in Auftrag geben (18. TB Nr. 23.1.3.2; 19. TB
Nr. 26.1.3). Das von den Berufsgenossenschaften hiergegen vorgebrachte Argument, die Vorschrift gelte nur im
Verwaltungsverfahren bei den Berufsgenossenschaften,
nicht aber im Gerichtsverfahren, in dem sich Versicherter
und Unfallversicherungsträger von Anfang an gleichermaßen gegenüberständen, läuft ebenso ins Leere wie die
Berufung auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, nach
dem eine Prozesspartei mit ihrem Vortrag gehört werden
müsse. Diese Argumentation der Unfallversicherungsträger rechtfertigt keine Abweichung von dem allgemeinen
datenschutzrechtlichen Grundsatz, dass eine Datenübermittlung nur zulässig ist, wenn das Gesetz sie erlaubt oder
der Betroffene einwilligt. Das Sozialgerichtsgesetz sieht
keine weiterreichende Befugnis für die Datenverarbeitung eines Unfallversicherungsträgers vor. Deshalb können die Berufsgenossenschaften nur im Rahmen des Sozialgesetzbuches die Daten der Versicherten nutzen, um
ihre Rechtsauffassung zu stützen. Dem Unfallversicherungsträger kann es in einem Anerkennungsverfahren
– auch wenn es vor dem Sozialgericht anhängig ist – nur
um eine sachlich richtige Entscheidung gehen. Hierfür
hat der Unfallversicherungsträger im Verwaltungsverfahren selbst die Ermittlungen geführt, im Regelfall ein Zusammenhangsgutachten eingeholt und nach bestem Wissen und Gewissen eine Entscheidung in der Hauptsache
getroffen. Die Einholung eines neuen Gutachtens durch
den Unfallversicherungsträger in einem anhängigen Sozialgerichtsverfahren ist deswegen regelmäßig nicht
erforderlich. Ist in diesem Gerichtsverfahren ein neues
Gutachten erstellt worden, kann sich der Unfallversicherungsträger für die Auseinandersetzung damit im Rahmen
der bereits akzeptierten Abgrenzungskriterien im Verwaltungsverfahren vor der Berufsgenossenschaft beraten lassen. Dies wird nicht durch ein weiteres Gutachten, sondern durch eine Stellungnahme zu Qualität und
Aussagekraft des neuen Gutachtens erfolgen. Da der Unfallversicherungsträger in eigener Zuständigkeit alle Er-

mittlungen für seine Entscheidung durchgeführt hatte,
muss er sich im gerichtlichen Verfahren allenfalls noch
zum Beweiswert eines neuen Gutachtens beraten lassen.
Das dargestellte Verfahren hat bereits in gemeinsamen
Gesprächen mit dem Hauptverband der Gewerblichen
Berufsgenossenschaften und dem BVA positive Resonanz
gefunden. Das entscheidende Gremium der Unfallversicherungsträger, die Hauptgeschäftsführerkonferenz, hat
jedoch noch nicht abschließend entschieden, welche
Empfehlung ausgesprochen werden soll. Es ist zu wünschen, dass dieses Gremium auch hier zu einer datenschutzgerechten Regelung kommen wird.
K a s t e n zu Nr. 19.1.3
§ 200 SGB VII Einschränkung der
Übermittlungsbefugnis
(2) Vor Erteilung eines Gutachtenauftrages soll der Unfallversicherungsträger dem Versicherten mehrere Gutachter zur Auswahl benennen; der Betroffene ist außerdem auf sein Widerspruchsrecht nach § 76 Abs. 2 des
Zehnten Buches hinzuweisen und über den Zweck des
Gutachtens zu informieren.
19.1.4 Zusatzgutachten
Die Unfallversicherungsträger weisen die Versicherten
nunmehr auf ihr Recht hin, Gutachter auch bei der
Zusatzbegutachtung vorschlagen zu können. Bei der
Praxis der Zusatzbegutachtung bleiben noch Fragen offen.
Auf meine Anregung, den Versicherten darauf hinzuweisen, dass er auch bei der Beauftragung eines Zusatzgutachters die in § 200 Abs. 2 SGB VII genannten Rechte
wahrnehmen kann, hat der Hauptverband der Gewerblichen Berufsgenossenschaften erfreulicherweise einen
Teil dieser Regelung in einem Formblatt klargestellt, das
allen Berufsgenossenschaften zur Verfügung gestellt
wurde. In dem Informationsschreiben zum Gutachterauswahlverfahren und Gutachtervorschlagsrecht wird dem
Versicherten mitgeteilt, dass ihm das Vorschlagsrecht
auch bei einer Zusatzbegutachtung zusteht. So sehr ich
die schnelle Umsetzung des letztgenannten Hinweises
begrüße, so sehr würde ich mir eine datenschutzfreundlichere Handhabung der Gutachterregelung selbst
wünschen. Bei unterschiedlichen und komplexen Verletzungen und/oder Erkrankungen, bei denen eine Zusatzbegutachtung zu erwarten ist, sollten schon bevor der
Hauptgutachter beauftragt wird auch mindestens drei
Zusatzgutachter zur Auswahl genannt und auf das
Vorschlagsrecht des Versicherten hingewiesen werden. In
Fällen, in denen eine Zusatzbegutachtung nicht absehbar ist, sollte im Formblatt für die Versicherten deutlich
erkennbar klargestellt werden, dass die Berufsgenossenschaft „Herr des Verfahrens“ bleibt. Der Versicherte
darf sich nicht dazu verpflichtet fühlen, sich mit dem

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20. Tätigkeitsbericht

2003–2004

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