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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014

Mahmut Özdemir (Duisburg)

(A)

Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes brauchen
keine Abgeordneten, die sich bei Streikkundgebungen
nur für ein Foto hergeben, das man danach twittern oder
posten kann. Der öffentliche Dienst braucht Abgeordnete, die exakt das halten, was sie fordern, die exakt das
tun, was sie versprechen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)
– Wenn ich mehr Redezeit hätte, würde ich es Ihnen erklären. – Es mag ja an der fehlenden Erfahrung einer Regierungsbeteiligung liegen – das sehe ich ein –,
(Lachen bei der LINKEN)
aber ich muss schon fragen: Wie lange wollen Sie eigentlich Anträge stellen, an deren Umsetzung Sie selber
berechtigterweise zweifeln müssen?
Lassen Sie mich nach diesem Ausflug in die realitätsnahe Politik
(Lachen bei der LINKEN)

noch einmal an das Thema Arbeitsbedingungen anknüpfen. Während wir Haushaltsdebatten führen, gehen Beschäftigte in Pension und nehmen ihre Stellen sozusagen
mit in den Ruhestand. Es fehlen dann Stellen, was den
Arbeitsdruck bei den im Dienst stehenden Beschäftigten
erhöht oder die Erledigung einer Aufgabe schlicht entfallen lässt. Das Stichwort, auf das ich hier anspiele, lautet „Aufgabenkritik“. Es geht um eine Aufgabenkritik,
die unter den Aspekten der Qualitätssicherung und Per(B) sonalsteuerung im Angesicht der Haushaltslage zu erfolgen hat, eine Aufgabenkritik, die Tarifautonomie und
Mitbestimmung auch und erst recht im öffentlichen
Dienst zum zentralen Ausgangspunkt macht.
Deshalb sind die Tarifverhandlungen aus meiner Sicht
dringend notwendig. Die erste Streikwelle hat uns deutlich gezeigt, was das in Ballungsräumen bedeuten kann.
45 000 Beschäftigte, die die Arbeit niederlegen, darunter
10 000 allein im öffentlichen Personennahverkehr, das
ist kein Pappenstiel. Tarifverhandlungen aber oder Anträge im Bundestag entheben uns nicht der Aufgabe, objektiv zu definieren, was der Staat im 21. Jahrhundert zu
leisten bereit ist und wozu er verpflichtet ist.
Gehaltsanpassungen, bezogen auf die zu erledigenden
Aufgaben, wirken immer nur kurzfristig. Sprechen Sie
doch einmal mit den Beschäftigten im öffentlichen
Dienst! Ich unterstelle, dass Sie das nicht tun.
(Widerspruch der Abg. Sabine Zimmermann
[Zwickau] [DIE LINKE])
Ich war im vergangenen Sommer bei Streikkundgebungen der Kolleginnen und Kollegen von der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung, die sich für einen Tarifvertrag
einsetzen müssen. Sprechen Sie doch einmal mit den Beschäftigten in mittlerweile privatisierten Staatsunternehmen oder mit den Beschäftigten in Justiz und Polizei!
Die lassen sich nicht nur hinter verschlossenen Türen die
Aussage entlocken, dass sie bereit wären, auf Geld zu
verzichten, wenn dafür mehr Personal eingestellt würde.
Auch das gehört zur Realität, die Sie verkennen.

(Zurufe von der LINKEN)

(C)

– Dass Sie schreien, zeigt mir, dass Sie keine Argumente
mehr haben. Schön! – So etwas geht aber nur mit einer
Aufgabenanalyse im öffentlichen Dienst, um darauf Arbeitsbedingungen und Gehaltsstrukturen aufzubauen.
Diesen Zielkonflikt zu lösen, das ist die Aufgabe aller
Fraktionen in diesem Haus. Stattdessen schwingen Sie
sich mit Ihrem Antrag aber zur alleinigen Arbeitnehmervertretung auf und schreiben in Ihrem Antrag die Forderungen auch noch unvollständig ab. Die Verdi-Bundestarifkommission fordert nämlich bei einjähriger
Tariflaufzeit einen Sockelbetrag von 100 Euro plus
3,5 Prozent mehr Gehalt, aber auch verbindliche Übernahmeregelungen für Auszubildende und den Ausschluss von sachgrundloser Befristung. Das haben Sie in
Ihrer Begründung zwar angeführt, aber das scheint Ihnen
doch so unwichtig zu sein, dass Sie es nicht in Ihren Antrag hineinschreiben. Wenn wir diese Debatte schon führen dürfen – oder besser: müssen –, dann bitte schön
auch vollständig.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)
Es ist höchst fragwürdig, die Bundesregierung aufzufordern, den Tarifforderungen vollumfänglich stattzugeben, obschon Sie wissen, dass nur der Bundestag in seiner Gesamtheit über den Haushalt entscheidet. Sie
schieben eine Verantwortung, die dem Parlament obliegt, einfach weg, nämlich die Verantwortung, darüber
zu entscheiden, welche Aufgaben der öffentliche Dienst
zu erledigen hat und was die Erledigung dieser Aufga- (D)
ben kostet. Mit Ihren Anträgen verhält es sich so wie mit
den im Training gefährlichen Torschützen: Im Meisterschaftsspiel laufen sie vor dem Ball einfach davon.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
Gerade deshalb ermuntere ich Sie: Lassen Sie uns doch
die Facharbeit hierzu leisten! Schreiben Sie einmal einen
Antrag weniger, und nutzen Sie die Zeit, um mit uns
Verbesserungen für den öffentlichen Dienst zu erreichen
und zu erarbeiten, Verbesserungen, die auch Haushaltserfordernissen standhalten!
(Zurufe von der LINKEN)
Dazu zählt weiter, dass wir schon dieses Jahr Kommunen bei der Grundsicherung im Alter vollständig entlasten werden, in den Folgejahren 2015 und 2016 jeweils
1 Milliarde Euro investieren
(Zuruf von der LINKEN)
– ja, dann helfen Sie dabei mit! – und 2017 und 2018 einen weiteren Aufwuchs auf 5 Milliarden Euro haben, um
die finanzielle Entlastung zu verstetigen. Das, was bei
den Ländern die Schuldenbremse ist, ist nämlich bei den
Kommunen die im Raum stehende Drohung der Aufsichtsbehörden mit Haushaltssperren. Der Vorsitzende
des Städte- und Gemeindebundes hat es doch richtig und
deutlich formuliert: In der derzeitigen Situation würden
wir uns mit einem überhöhten Tarifabschluss gegenseitig
schaden,

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