§ 75 SGB X ist zu einer Zeit entstanden, in der die Daten der Sozialleistungsträger noch weitgehend in Papierform vorlagen. Auf Seite der Wissenschaft haben sich durch den technischen Fortschritt die Möglichkeiten der
wissenschaftlichen Auswertung von Daten erheblich verändert. Im Gegensatz zu der Zeit als die Vorschrift des
§ 75 SGB X entstanden ist, liegen die Sozialdaten heute nahezu ausnahmslos elektronisch vor und können auch
mit neueren Methoden ausgewertet werden. Dazu gehören etwa auch Big-Data-Anwendungen (vgl. auch
Nr. 2.2), die es ermöglichen, riesige Datenbestände wissenschaftlich auszuwerten. Dies hat zum Entstehen von
Forschungsdatenbanken geführt, die es erlauben, deutlich mehr wissenschaftliche Fragen zu beantworten als
früher. Insbesondere die epidemiologische Forschung hat erhebliche Fortschritte gemacht. Nachdem es in den
1990er Jahren zu Betrugsfällen in der Forschung kam, haben zudem die „Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ aus dem Jahre 1998 für die Wissenschaft
ein flächendeckendes System der Selbstkontrolle eingeführt. So müssen die Rohdaten, mit denen die Forschungsergebnisse erzielt wurden, nach Abschluss des Forschungsprojektes zehn Jahre aufbewahrt werden, um
im Zweifelsfall die gefundenen Forschungsergebnisse reproduzieren zu können.
Bei einer möglichen Novellierung der sozialrechtlichen Forschungsvorschrift müssen neben diesen Gegebenheiten aber auch die berechtigten Interessen des Einzelnen geschützt werden, seine zum Teil sehr sensiblen Daten
nicht ungeschützt Dritten zu überlassen. Es gibt hier verschiedene Lösungsmöglichkeiten, etwa den Wissen schaftlern nur pseudonymisierte Daten für die Forschung zur Verfügung zu stellen, die keinen Bezug zu einer
einzelnen Person mehr zulassen. Die Pseudonymisierung erfolgt bei einer von dem wissenschaftlichen Institut
unabhängigen Stelle (Vertrauensstelle), die dabei hinreichend und dem Stand der Technik entsprechend vorgeht.
Derartige Lösungen sind auch dafür geeignet, um Langzeitstudien verwirklichen zu können. Die jetzige gesetzliche Regelung lässt derartige Lösungen nicht immer zu.
Ich empfehle dem Gesetzgeber, eine Änderung des § 75 SGB X herbeizuf��hren, die sowohl die Interessen der
Wissenschaft als auch die Rechte der betroffenen Bürgerinnen und Bürger angemessen berücksichtigt.
9.6
Plötzlich Mitarbeiter der Berufsgenossenschaft - die merkwürdige Rolle der sog. beratenden Ärzte in der Unfallversicherung
Vielen Versicherten werden weiterhin die in § 200 Absatz 2 SGB VII genannten Rechte verwehrt. Entgegen den
Beteuerungen des zuständigen BMAS hat sich die bisherige Umsetzung durch die Unfallversicherungsträger
nicht bewährt.
Seit Inkrafttreten des § 200 Absatz 2 SGB VII zum 1. Januar 1997 habe ich immer wieder darüber berichtet,
dass die Unfallversicherungsträger diese Vorschrift in vielen Fällen so auslegen, dass die dort genannten Rechte
den Versicherten nicht oder nur unzureichend gewährt werden (zuletzt in meinem 24. TB Nr. 14.4.1). Auch die
in vielen datenschutzrechtlichen Fragen grundsätzlichen Urteile des Bundessozialgerichts vom 5. Februar 2008
- B 2 U 8/07 R und B 2 U 10/07 R - haben nicht zu einer Klarstellung des § 200 Absatz 2 SGB VII geführt, da
in wichtigen Fragen breite Interpretationsspielräume offen gelassen wurden (vgl. 22. TB Nr. 10.3.1 und 24. TB
Nr. 11.41.1). Insbesondere durch den Einsatz sog. beratender Ärzte sind die Verfahren in der gesetzlichen Unfallversicherung intransparent geworden. Die Unfallversicherungsträger holen ärztliche Voten ein, die sich in
den Auswirkungen als Beweismittel in den Verfahren kaum von richtigen Gutachten unterscheiden, aber aufgrund der rechtlichen Einordnung den Versicherten die in § 200 Absatz 2 SGB VII genannten Rechte verwehren
können.
Die Gutachterregelung des § 200 Absatz 2 SGB VII ist nur dann anwendbar, wenn eine „Übermittlung“ der Daten des Versicherten an einen „Gutachter“ stattfindet. Bei Ärzten, die eine vertragliche Bindung zu einem Unfallversicherungsträger im Hinblick auf eine Beratungstätigkeit oder Zusammenarbeit haben, sollen hingegen
kein Gutachterauftrag und vor allem keine Übermittlung vorliegen. Diese „beratenden Ärzte“ gelten nach Auffassung aller Unfallversicherungsträger als „Mitarbeiter“ der jeweiligen Verwaltungen. Wird der „Mitarbeiter“
beauftragt, ein sachverständiges Votum zu dem gesamten Verfahren eines Versicherten abzugeben, das er als
BfDI 25. Tätigkeitsbericht 2013-2014
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