Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
– 31 –
K a s t e n zu Nr. 2.9
Beispiele für Konfliktsituationen:
– Auskunftsanspruch gegenüber der Schule:
– Können Schülerinnen und Schüler den Anspruch
eigenständig geltend machen und ab welchem
Alter?
– Kann ihnen entgegengehalten werden, ihre Eltern
hätten bereits Auskunft erhalten?
– Haben die Eltern einen Anspruch auf Auskunft,
auch wenn der betroffene Jugendliche dies ausdrücklich nicht wünscht?
– Einwilligung in die Veröffentlichung von Fotos:
– Bedarf es der Einwilligung sowohl der Eltern als
auch des Jugendlichen?
– Können die Eltern gegen den ausdrücklichen Willen des Jugendlichen wirksam einwilligen?
– Kann umgekehrt der Jugendliche gegen den ausdrücklichen Willen der Eltern wirksam einwilligen?
– Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener
Daten zu Werbezwecken:
– Reicht die Einwilligung des Jugendlichen und gegebenenfalls ab welchem Alter?
– Können die Eltern gegen den Willen des betroffenen Jugendlichen einwilligen?
– Wem steht das Widerrufsrecht zu?
Drucksache 16/12600
sätze gleichfalls für die private Datenverarbeitungen.
Doch dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung
scheint im modernen Wirtschaftsleben keinen Platz zu
haben. Die Vorfälle der letzten Zeit haben vor Augen geführt, welche Gefahren mit den großen Datensammlungen in der Privatwirtschaft einhergehen.
Wirtschaftsvertreter argumentieren bisweilen damit, dass
sich die Einstellung der Menschen zur Privatsphäre und
zum Datenschutz wesentlich geändert habe. Man sei
heute eben freizügiger. Man könne sich nicht über Datenschutzskandale ereifern und gleichzeitig seine persönlichsten Daten, Vorlieben und Interessen bei Glücksspielen oder Kundenbindungsprogrammen freiwillig
preisgeben (s. u. Nr. 7.3). Ich halte dies nicht für überzeugend. Auch diejenigen, die Kundenkarten oder soziale
Netzwerke nutzen, haben einen Anspruch darauf, dass
ihre Konto- oder Gesundheitsdaten vertraulich behandelt
werden.
Erforderlich ist gleichwohl ein grundlegender Bewusstseinswandel. Dabei ist auch zu fragen, inwieweit der Einzelne angesichts der massenhaften Datenverarbeitung und
den sich immer schneller entwickelnden technischen
Möglichkeiten selbst noch in der Lage ist, die Gefahren
für sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu
überblicken. Der eigenverantwortlich handelnde Mensch
ist der Maßstab einer selbst bestimmten Informationsgesellschaft, doch setzt dies Verständnis und Bildung voraus – die oft beschworene digitale Spaltung der Gesellschaft in Computerkundige und -unkundige setzt sich
auch hier fort (s. u. Kapitel 7, insb. Nr. 7.2, 7.3, 7.8 sowie
Nr. 8.5 und 11.1). Ohne IT-Kenntnisse kein wirksamer
Schutz der Privatsphäre mehr?
Personenbezogene Daten sind die Währung der Informationsgesellschaft – wer diese nicht preisgeben will, muss
auf viele Dienste und Bequemlichkeiten verzichten, erleidet sogar finanzielle Nachteile. Ohne Suchmaschinen
lässt sich das Internet nicht mehr erschließen. Der Handel mit persönlichen Informationen scheint aus dem modernen Wirtschaftsleben nicht mehr wegzudenken zu sein.
Und es gibt keine Flucht in ein Robinson’sches Paradies.
Ist da noch Platz für eine Balance zwischen informationeller Selbstbestimmung und wirtschaftlichen Interessen?
Für mich ist es vor diesem Hintergrund keine Frage, dass
der Staat hier die Bürgerinnen und Bürger schützen muss.
Auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Dr. Papier, sieht den Staat in der Pflicht, ein „angemessenes Schutzregime“ zu schaffen. Noch sehe ich hier
ein erhebliches Defizit. Der Staat hat zwar bei den Sicherheitsgesetzen erheblich aufgerüstet, der Datenschutz in
der Privatwirtschaft und vor allem die Frage, wie die Bürgerinnen und Bürger vor zu viel Datensammelwut in der
Wirtschaft geschützt werden können, ist in der Vergangenheit häufig vernachlässigt worden. Obwohl die als Reaktion auf aktuelle Missstände initiierten Gesetzesinitiativen durchaus zu begrüßen sind, können punktuelle
Verbesserungen eine grundlegende Anpassung des Datenschutzrechts an die modernen Formen der Datenverarbeitung nicht ersetzen (s. u. Nr. 3.4.4 und Nr. 3.4.5).
Vor 25 Jahren stellte das Bundesverfassungsgericht im
Volkszählungsurteil (1 BvR 209/83 u. a. vom 15. Dezember 1983) fest, dass eine Gesellschaftsordnung, in der
Bürgerinnen und Bürger nicht mehr wissen können, wer
was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß,
nicht mit dem informationellen Selbstbestimmungsrecht
und damit dem Menschenbild des Grundgesetzes vereinbar wäre. Obwohl sich dieses Urteil unmittelbar nur auf
staatliche Datensammlungen bezieht, gelten seine Grund-
Eine demokratische Informationsgesellschaft ist ohne
eine Ethik der Selbstbegrenzung nicht denkbar: Nicht alles was möglich ist, darf auch gemacht werden. Informationen sind nicht das Maß aller Dinge, sonst wird der
Mensch zum bloßen Objekt der Information, während die
Information, das einzelne Datum zum objektiven, unbestechlichen Wert erhoben wird, dem der einzelne Mensch
in seiner Subjektivität und Fehlbarkeit nichts mehr entgegensetzen kann.
3
Wirtschaft
3.1
Gibt es eine Balance zwischen
informationeller Selbstbestimmung
und wirtschaftlichen Interessen?
BfDI 22. Tätigkeitsbericht 2007-2008