Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
9.4
– 111 –
Kontenabrufverfahren durch die Finanzämter und andere Behörden
Der Gesetzgeber musste die vom Bundesverfassungsgericht wegen mangelnder Bestimmtheit für verfassungswidrig erklärte Rechtsgrundlage in der Abgabenordnung
neu fassen.
Schon im Gesetzgebungsverfahren zum Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit (BGBl. I 2003 S. 2928) im
Jahre 2003 habe ich u. a. kritisiert, dass § 93 Absatz 8 AO
den Kreis der zum Kontenabruf berechtigten Behörden
nicht präzise festlege und es daher an der erforderlichen
Normenklarheit fehle. Es werde nicht geregelt, welche
Behörden zu welchem Zweck eine Kontenabfrage durchführen dürfen. Darüber hinaus habe ich darauf hingewiesen, dass routinemäßige oder anlasslose Abrufe nicht erfolgen dürften. Daher sollten Kontenabrufe nur im
Rahmen konkreter Verdachtsmomente erlaubt sein (s. im
einzelnen 20. TB Nr. 8.3; 21. TB Nr. 8.2).
Mit den Datenschutzbeauftragten der Länder habe ich gefordert, die Neuregelung vor allem im Hinblick auf das
verfassungsrechtliche Gebot der Normenklarheit und
Transparenz zu überarbeiten (s. 20. TB Kasten b zu
Nr. 8.3).
Mit Beschluss vom 13. Juni 2007 (1 BvR 1550/03) hat
das Bundesverfassungsgericht über die Ende 2004 eingereichten Verfassungsbeschwerden, die sich gegen
§§ 93 Absatz 7 und 8 AO richteten, entschieden. Während § 93 Absatz 7 AO danach mit dem Grundgesetz
vereinbar ist, wurde die Verfassungsmäßigkeit von § 93
Absatz 8 AO wegen des Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit verneint. Zum einen, so das BVerfG, bestimme § 93 Absatz 8 AO den
Kreis der Behörden, die ein Ersuchen zum Abruf von
Kontostammdaten stellen können, nicht hinreichend.
Zum anderen lege § 93 Absatz 8 AO die Aufgaben, denen ein solches Ersuchen dienen solle, nicht ausreichend
fest. Des Weiteren stellte das BVerfG im Hinblick auf
§§ 93 Absatz 7 und 8 AO klar, dass Auskunftsverlangen
und Kontenabrufe nicht „ins Blaue hinein“ erfolgen
dürften. Vielmehr bedürfe es dazu konkreter Anhaltspunkte, allgemeiner Erfahrungswerte oder sonstiger Belege für die Erforderlichkeit der Maßnahme. Schließlich
müsse ein routinemäßiger, anlassloser Einsatz der Abfragen verhindert werden und die Möglichkeit bestehen,
Missbräuche im Nachhinein durch effektive Datenschutzkontrollen aufzudecken.
Der Gesetzgeber hat dementsprechend § 93 Absatz 8 AO alte Fassung durch insgesamt drei Absätze
(§ 93 Absatz 8 bis 10 AO neue Fassung) ersetzt. Aus
§ 93 Absatz 8 AO ergeben sich mittelbar die Behörden,
die zum Kontenabruf berechtigt sind, die Abrufvoraussetzungen und Zweckbestimmungen. So können z. B.
durch die Arbeitsverwaltung Kontenabrufe im Rahmen
der Überprüfung der Berechtigung zum Bezug von
Arbeitslosengeld II erfolgen. § 93 Absatz 9 AO bestimmt, dass der Betroffene grundsätzlich auf die Mög-
Drucksache 16/12600
lichkeit des Kontenabrufs vorab hinzuweisen und über
dessen Durchführung zu benachrichtigen ist, nennt aber
auch Ausnahmen von dieser Hinweis- und Benachrichtigungspflicht, etwa soweit die Benachrichtigung die ordnungsgemäße Erfüllung der in der Zuständigkeit des Ersuchenden liegenden Aufgaben gefährden würde. § 93
Absatz 10 AO legt schließlich fest, dass ein Antrag auf
Kontenabruf und dessen Ergebnis vom Antragsteller zu
dokumentieren sind.
Erneut hat sich im Berichtszeitraum die Anzahl der Kontenabrufe erhöht (vgl. 21. TB Nr. 8.2). Ende 2008 betrug
das Abfragevolumen annähernd 200 Abrufe, das Abfragekontingent dagegen bis zu 2000 Abfragen täglich. Ob
sich die Zunahme der Zahl der Abrufe weiter fortsetzen
wird, bleibt abzuwarten.
Besonderes kritisch sehe ich es, dass das Kontenabrufverfahren nicht nur für öffentlich-, sondern auch für
privatrechtliche Zwecke genutzt werden soll. So sieht
etwa der Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung (Bundestagsdrucksache 16/10069) eine Auskunftsmöglichkeit des Gerichtsvollziehers zur Durchsetzung titulierter zivilrechtlicher Ansprüche vor (§ 802 Absatz l ZPO-E).
9.5
Auskunftsanspruch in der Abgabenordnung
Obwohl das BMF zugesagt hat, ein Auskunftsrecht analog § 19 BDSG in die Abgabenordnung aufzunehmen, ist
noch immer keine gesetzliche Regelung vorhanden.
Seit vielen Jahren treten die Datenschutzbeauftragten
des Bundes und der Länder dafür ein, das von Verfassung wegen gebotene Auskunftsrechts der Betroffenen
über die zu ihrer Person gespeicherten Daten auch gegenüber der Finanzverwaltung zu gewährleisten. Aus
diesem Grund habe ich mich nachdrücklich für die Aufnahme eines Auskunftsrecht in die AO eingesetzt. Bestärkt werde ich durch einen Beschluss des BVerfG (Beschluss vom 10. März 2008, 1 BvR 2388/0), in dem der
Auskunftsanspruch nach § 19 BDSG gegenüber der
Finanzverwaltung unmittelbar für anwendbar erklärt
wurde. Einer (Finanz-)Behörde, stellt das BVerfG klar,
komme kein Ermessen bei der Entscheidung über die
Auskunftsgewährung zu. Dies aber hat das BMF bisher
stets vertreten.
Diese richterliche Klarstellung ist auch deshalb so wichtig, weil es kaum ein anderes, für die Bürgerinnen und
Bürger ähnlich bedeutsames Gebiet hoheitlichen Handelns gibt, das fast 30 Jahre nach Inkrafttreten des BDSG
und 25 Jahre nach dem Volkszählungsurteil des BVerfG
vergleichbar große datenschutzrechtliche Defizite aufweist wie die AO.
Das BMF machte daraufhin den Vorschlag, § 19 BDSG
durch eine Bestimmung der AO „für entsprechend anwendbar“ zu erklären.
BfDI 22. Tätigkeitsbericht 2007-2008