Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
13.5

Drucksache 17/5200

– 141 –

Viel Neues zwischen Stockholm
und Lissabon

In das alte Europa der „3. Säule“ ist viel Bewegung gekommen: ein neues Programm mit neuen Zielvorgaben
für die EU und vor allem ein neuer rechtlicher Rahmen
nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon.
Der Rahmen für das, was einmal die „3. Säule“ der Europäischen Union genannt wurde, also der Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen,
hat sich seit meinem letzten Tätigkeitsbericht grundlegend
verändert: So haben sich die Regierungen der Mitgliedstaaten im sogenannten Stockholmer Programm neue politische Zielvorgaben zur weiteren Entwicklung eines
Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts für die
nächsten fünf Jahre gesetzt. Dieses Programm weckt aber
durchaus zwiespältige Gefühle (vgl. die Entschließung der
78. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes
und der Länder). Zwar ist der Datenschutz nominell stärker in den Mittelpunkt gerückt, ich habe allerdings angesichts der benannten Vorhaben meine Zweifel, ob sich dies
auch in der Arbeit der europäischen Organe niederschlagen wird. Jedenfalls bedarf es weiterer Schritte, um ein
ausgewogenes Verhältnis von Sicherheit und Freiheit in
Europa zu erreichen (vgl. Kasten zu Nr. 13.5).
Von noch grundlegenderer Bedeutung als das Stockholmer
Programm ist allerdings das Inkrafttreten des Vertrages
von Lissabon. Die ehemalige Säulenstruktur der EU
wurde aufgelöst und die Sonderrolle des Bereichs der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen
erheblich begrenzt. Zwar bleibt vorerst aufgrund von
Übergangsregelungen noch vieles, wie es ist. Doch einiges
hat sich schon getan und noch mehr Wandel deutet sich an.
Dies liegt nicht zuletzt an Artikel 16 des Vertrages über die
Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der eine
allgemeine Befugnis für den europäischen Gesetzgeber
schafft, datenschutzrechtliche Vorschriften auf der Grundlage des neuen Rechtsrahmens im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu erlassen. Einstimmigkeit ist also nicht
mehr erforderlich, das Europäische Parlament ist Organ
der Gesetzgebung neben den europäischen Regierungen.
Zu diesem Rechtsrahmen gehört nun auch in verbindlicher
Form die Grundrechte-Charta, die in Artikel 8 den Schutz
personenbezogener Daten als eines der wesentlichen
Grundrechte in der EU benennt und zugleich Voraussetzungen für die Datenverarbeitung aufführt (vgl. o.
Nr. 13.1).

Hierin sehe ich für den Datenschutz im Bereich der ehemaligen 3. Säule eine besondere Chance. Ziel muss es
sein, sowohl das Datenschutzniveau zu verbessern als
auch eine stärkere Harmonisierung des Rechts in Europa
zu erreichen. Der Rahmenbeschluss über den Schutz personenbezogener Daten bei der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (vgl. 22. TB Nr. 13.3.1)
ist insoweit unzureichend, abgesehen davon, dass er in nur
wenigen EU-Mitgliedstaaten bisher umgesetzt wurde. Auf
den Prüfstand gehört dabei auch die Art und Weise, wie die
nationalen Datenschutzbehörden auf europäischer Ebene
zusammenarbeiten. Nach meinem Eindruck will die Europäische Kommission Motor für eine Modernisierung des
Datenschutzrechts in der EU sein und den neuen Rechtsrahmen dazu nutzen, die maßgeblichen Rechtsakte für die
polizeiliche Zusammenarbeit gründlich zu überholen. Sie
hat dies mehrfach angekündigt, zuletzt in ihrer Mitteilung
zur Überarbeitung der europäischen Datenschutzrichtlinie
95/46/EG vom November 2010 (vgl. Nr. 13.2). Initiative
wie auch das legislative Initiativrecht liegen nun bei ihr.
Gegenwärtig bilden die verschiedenen Rechtsakte im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit
in Strafsachen ein selbst für Fachleute nur schwer durchschaubares Geflecht. Es wird daher in Zukunft darauf ankommen, allgemeine datenschutzfreundliche Grundsätze
für diesen Bereich in der Gesetzgebung zu verankern. Dabei wird es zwar auch weiterhin spezieller Rechtsakte
(etwa zum Schengener Informationssystem oder zu Europol) bedürfen. Aber die Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen, etwa beim Auskunftsrecht gegenüber
den Polizeibehörden, bedürfen stets der Rechtfertigung
und einer normenklaren Ausgestaltung.
Daneben muss die Artikel-29-Gruppe als europäisches
Beratungsgremium für Datenschutzfragen infolge der
Aufhebung der Säulenstruktur geändert werden. Ihre Begrenzung auf den Anwendungsbereich der Richtlinie 95/
46/EG ist schlichtweg nicht mehr zeitgemäß. Darüber hinaus haben die europäischen Datenschutzbehörden einen
Weg zu finden, die wichtigen Aufgaben der Kontrolle effektiver zu koordinieren. Deshalb ist auch eine Überarbeitung der Struktur und Arbeitsweise der Kontrollinstanzen notwendig. Die Überlegungen für neue Rechtsregeln
im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen stehen noch am Anfang. Ich werde
mich bei den anstehenden Diskussionen mit viel Tatkraft
einbringen – und in meinem nächsten Tätigkeitsbericht
hoffentlich von weiteren Erfolgen berichten können.

K a s t e n zu Nr. 13.5
Entschließung der 78. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes
und der Länder am 8. und 9. Oktober 2009 in Berlin
Datenschutzdefizite in Europa auch nach Stockholmer Programm
Die Europäische Union will im Stockholmer Programm ihre politischen Zielvorgaben zur Entwicklung eines Raums
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für die kommenden fünf Jahre festschreiben. Dazu hat die Kommission
der Europäischen Gemeinschaften einen Entwurf vorgelegt.

BfDI 23. Tätigkeitsbericht 2009-2010

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