[Präsident/ Abteilungsleiter2] eine erneute Prüfung der
Akten wünschten.176

Kritikwürdiges Verhalten des Generalbundes­
anwalts und der Staatsanwaltschaft Köln

Es lag auf der Hand, dass die Daten mindestens »als
Mosaikstein«177 Relevanz hatten, und ihre Systematisierung, Verknüpfung und Zuordnung zu anderen
Erkenntnissen die Aufgabe des Verfassungsschutzes im
Rahmen seines Beobachtungsauftrags gewesen wären.
Es handelte sich um »Sachinformationen aus […] zurückliegenden Zeiten«, die für die Arbeit des Verfassungsschutzes »indirekt Bedeutung behalten [hatten], da sie
sich auf frühere Aktivitäten und Verbindungen zu Kreisen
[bezogen]«178, die damals verfassungsfeindlich agierten
und aus denen heraus die Terrorgruppe NSU entstanden war. Selbst wenn zum Zeitpunkt der Vernichtung
noch nicht erkannt gewesen sein sollte, dass es konkret
die Vereinigung NSU gab, war doch Lingen bekannt,
dass es einen aktuellen Zusammenhang einer rechtsextremen Terrorgruppe mit dem früher als verfassungsfeindlich erkannten THS gab. Der Aufgabenbereich des
Verfassungsschutzes mit dem Beobachtungsauftrag
in Bezug auf eine verfassungsfeindliche Bestrebung,
die eine »Herrschaft des Terrors« anstrebte und ihre
Vorstellungen und Ziele ohne Beachtung der Gesetze
mittels Gewalt durchsetzen wollte und die Rassismus
und Antisemitismus propagierte179, war damit eröffnet.

Unmittelbar nach Bekanntwerden der Aktenvernichtung
im Bundesamt für Verfassungsschutz am 11. November 2011 anlässlich der Zeugenvernehmung von Heinz
Fromm vor dem ersten Bundestagsuntersuchungsausschuss im Juni 2012, hatten u.a. der Verband deutscher
Archivarinnen und Archivare e.V. sowie einige Angehörige der Mordopfer des »Nationalsozialistischen Untergrunds« Ende Juni 2012 bei der Staatsanwaltschaft Köln
Anzeige u.a. gegen Heinz Fromm und den ehemaligen
Referatsleiter Lothar Lingen u.a. wegen Verwahrungsbruchs (§133 StGB), Urkundenunterdrückung (§ 274
StGB) und Beweismittelvernichtung erstattet. Nach
Vorermittlungen lehnte die Staatsanwaltschaft Köln
gem. §§ 152 Abs. 2, 172 Abs. 2 StPO mit Verfügung vom
18. Juni 2013 die Aufnahme förmlicher Ermittlungen
gegen Heinz Fromm und Lothar Lingen ab, da »ein die
Aufnahme staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen berechtigender Anfangsverdacht eines strafrechtlich relevanten
Handelns des ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes
für Verfassungsschutz […] oder Dritter nicht gegeben ist
[…]«. »Ein Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften oder
dienstliche Vorgaben« sei »nicht belegbar«. Die Nichtaufnahme der Ermittlungen begründete die Staatsanwaltschaft Köln u.a. damit, dass die vernichteten Akten für
den ersten NSU-Untersuchungsausschuss rekonstruiert
worden und sowohl diesem als auch der Staatsanwaltschaft Köln im Original zur Verfügung gestellt worden
seien.181 Die »im Original zur Verfügung gestellten
Aktenstücke« wären, »soweit prüfbar, vollständig und
frei von Änderungen oder Löschungen. [...] Aus den
rekonstruierten Akten ergeben sich aber weder Hinweise
auf Personen, die dem NSU zuzurechnen sind, noch auf
Sachverhalte, die in einem engeren Zusammenhang mit
dem NSU stehen. Keiner der in den vernichteten V-MannAkten behandelten V-Leute gehörte zum Führungspersonal des ‚THS‘, vielmehr handelt es sich um Randpersonen, die auch nur kurz als V-Leute verpflichtet waren.«

Die Aktenvernichtung widersprach damit dem
Gesetz genauso wie der BfV-internen Vorgabe.
Als der Sonderermittler MinDir Engelke selbst180 als Motiv des Lothar Lingen »eine etwaige Vertuschungsabsicht
hinsichtlich grob unprofessioneller, rechtswidriger oder
krimineller Handlungen« ausschloss und statt dessen
als Motiv »mit höchster Wahrscheinlichkeit« annahm,
dass dieser »nur« Aktenbestände vernichten wollte, »zu
denen er Nachfragen, Wiedervorlagen und Prüfarbeiten
vermeiden wollte – Arbeiten, die eventuell notwendig
würden, obwohl die Akten möglicherweise bereits seit
längerem hätten vernichtet worden sein können oder
müssen« –, lag er damit falsch. Diese Akten mussten
weder, noch durften sie vernichtet werden. Der Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes widersprach
der Vernichtung.
Nach heutiger Kenntnis und nach Auffassung des Ausschusses war auch die Bewertung des Sonderermittlers
MinDir Engelke falsch, wonach die Angaben des Zeugen
Lothar Lingen glaubhaft seien, es ihm bei der Aktenvernichtung nur um die Vermeidung von Prüfarbeiten
gegangen sei und er eine Vertuschungsabsicht nicht
gehabt habe, was er gegenüber dem Oberstaatsanwalt
beim BGH Weingarten jedenfalls in Hinblick auf die Zahl
der V-Personen des BfV in Thüringen jedoch zugegeben
hat.

(Abschlussbericht, S. 763).
Roth in: Sicherheitsrecht des Bundes BVerfSchG §§ 3, 4 Rn. 91
178
VGH B-W Urteil v. 14.9.1982, JZ 1982, S. 853, 855
179
Roth in: Sicherheitsrecht des Bundes BVerfSchG §§ 3, 4 Rn. 50, 54
180
S. 5 des Berichts offene Fassung

Zur Motivation der Aktenvernichtung habe »der Sonderbeauftragte des Bundesministers des Innern mitgeteilt,
dass der die Vernichtung verantwortende Referatsleiter
ihm, dem Sonderbeauftragten, gegenüber geäußert
habe, Ziel der Vernichtung sei es gewesen, nach der
Feststellung mangelnder Bezüge zur NSU und der aus
seiner Sicht schon lange bestehenden Vernichtungsreife
sich und seinem Referat angesichts der gleichwohl zu erwartenden zukünftigen Nachfragen, Wiedervorlagen und
Prüfarbeiten ‚unnütze‘ Arbeit zu ersparen. Dass mit der
Vernichtungsaktion nach Ansicht der Staatsanwaltschaft
Köln ‚tatsächlich nur die Bereinigung des Aktenbestandes im Vordergrund stand‘ sei, »aber auch insoweit naheliegend, als es im Falle einer Vertuschung weder einen
zutreffend datierten Vernichtungsauftrag gegeben hätte
noch die übergeordneten Sachakten von der Vernichtung
ausgenommen worden wären. [...]«

176
177

vgl. http://bit.ly/2xskGKv für den Wortlaut der Abschlussverfügung
der StA Köln.
181

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