Parlamentarische Aufklärung im NSU-Komplex –
gegen die Blockade der Geheimdienste
Die rassistische Mord- und Anschlagsserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) markiert eine
Zäsur in der Geschichte des bundesdeutschen Rechtsterrorismus und dessen Strafverfolgung. Knapp 13 Jahre
konnte das NSU-Kerntrio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos
und Beate Zschäpe in der Illegalität in Sachsen leben:
mit Hilfe von mehr als drei Dutzend Unterstützerinnen
und Unterstützern, die für die drei ab Januar 1998 von
der Polizei gesuchten Neonazis aus Jena Geld, Ausweisdokumente, Wohnungen, Krankenkassenkarten,
Waffen und Sprengstoff zur Verfügung stellten. Zehn
Menschen ermordete das Netzwerk des NSU zwischen
dem 9. September 2000 und dem 25. April 2006: Enver
Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü,
Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros
Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle
Kiesewetter. Mehr als zwei Dutzend Menschen migrantischer Herkunft wurden bei den drei bislang bekannten
Sprengstoffanschlägen des NSU-Netzwerks im 1999 in
Nürnberg, im Januar 2001 in der Kölner Propsteigasse
und im Juni 2004 in der Keupstraße in Köln zum Teil
lebensgefährlich verletzt. Bei fünfzehn Raubüberfällen
zwischen Dezember 1998 und November 2011, die dem
NSU bislang zugerechnet werden, erbeutete das Netzwerk mehr als eine halbe Million Euro.
Zwölf parlamentarische Untersuchungsausschüsse
haben sich seit der Selbstenttarnung des mutmaßlichen NSU-Kerntrios am 4. November 2011 mit dem
NSU-Komplex befasst. Als Obfrau für die Fraktion DIE
LINKE habe ich sowohl im ersten Bundestagsuntersuchungsausschuss zum NSU in der 17. Wahlperiode als
auch im zweiten Bundestagsuntersuchungsausschuss
in der 18. Wahlperiode vor allem drei Schwerpunkte in
den Mittelpunkt der parlamentarischen Aufklärungsarbeit gestellt:
Den institutionellen Rassismus der Strafverfolgungsbehörden: Rassistische Vorurteile und Stereotype haben dazu geführt, dass die Ermordeten der
sogenannten Ceska-Mordserie, ihre Angehörigen sowie
die Verletzten der rassistischen Bombenanschläge
teilweise mehr als ein Jahrzehnt lang von der Polizei
und der Justiz als Verdächtige kriminalisiert, stigmatisiert und gesellschaftlich isoliert wurden. Wahlweise
behaupteten die Ermittler, die Täter und ihre Opfer
seien in der »türkischen Blumenmafia«, Geldwäsche- oder Menschenhändler-Ringen, Schutzgelderpressungs-Netzwerken oder der Drogenmafia aktiv
gewesen. Dabei ignorierten die Mordkommissionen an
den Tatortstädten und die BAO Bosporus sowohl die
Hinweise der Betroffenen auf rassistisch oder neonazistisch motivierte Täter als auch eine Operative Fallanalyse aus dem Jahr 2007, die von rassistisch motivierten
Tätern ausging. Auf diese Art verhinderte institutioneller Rassismus eine erfolgreiche Fahndung nach
den Tätern der Ceska-Mordserie und der rassistischen
Sprengstoffanschläge.
Petra Pau
Mitglied des Bundestages,
Obfrau im 3. Untersuchungsausschuss (NSU)
Die Verantwortung der Verfassungsschutzbehörden
und des V-Leute-Systems: Das mutmaßliche NSUKerntrio sowie dessen engste Unterstützerinnen und
Unterstützer waren von mehr als drei Dutzend neonazistischen V-Leuten umringt. Die Verfassungsschutz
behörden des Bundes und der Länder trugen durch das
V-Leute System entscheidend zum Aufbau eben jener
Neonazistrukturen und –netzwerke bei, die seit mehr als
zwei Jahrzehnten die Strafverfolgungsbehörden beschäftigen und vielerorts antifaschistisch und zivilgesellschaftlich Engagierte, aber vor allem auch Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten bedroht, angegriffen, verletzt
und in mehr als 170 Fällen seit 1990 getötet haben. Im
NSU-Komplex konnten wir in den Untersuchungsausschüssen nachweisen, dass das Geheimdienst-Prinzip
»Quellenschutz vor Strafverfolgung« dazu führte, dass
schwerstkriminelle Neonazis von ihren V-Mannführern
vor Polizei-Maßnahmen gewarnt und vor Strafverfolgung
geschützt wurden. Gleichzeitig haben wir festgestellt,
dass die Geheimdienste davon ausgingen, sie würden
über Neonazi-Führungskader als V-Leute die Aktivitäten der Neonazibewegung und der NPD kontrollieren
können. Die Loyalität der V-Leute galt und gilt jedoch
in allererster Linie ihrem eigenen Wohlergehen, dann
dem der Kameraden aus der Neonaziszene und erst
zum Schluss den V-Mannführern. V-Leute stärken die
Neonazibewegung, sie verhinderten weder die NSUMordserie noch trugen sie zu deren Aufklärung bei.
Aufklärungsblockade der Geheimdienste: Knapp
sechs Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios sind zentrale Fragen der Angehörigen der NSU3