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Als eine der ersten Maßnahmen im Bereich der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen wurde der Europäische Haftbefehl geschaffen, der durch das „Gesetz
zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ vom
21. Juli 2004 (BGBl. I S. 1748) in nationales Recht umgesetzt wurde. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht bereits am 24. November 2004 (2 BvR 2236/04) im
Wege einer einstweiligen Anordnung die erste Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ausgesetzt. Man darf gespannt sein, inwiefern die noch ausstehende Entscheidung über die zugrunde liegende
Verfassungsbeschwerde Konsequenzen für das Instrument des Europäischen Haftbefehls und möglicherweise
auch für andere Maßnahmen der gegenseitigen Anerkennung haben wird.
Auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung stützt
sich auch der Vorschlag der Europäischen Kommission
für einen Rahmenbeschluss über die Europäische
Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren
(KOM(2003) 688 endg.; Ratsdok. 15221/03). Diese Maßnahme, die eine zügigere und effizientere justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen ermöglichen soll, ist äußerst
problematisch, worauf ich das BMJ sowie den Rechtsausschuss des Bundestages in einer gemeinsamen Stellungnahme mit den Datenschutzbeauftragten der Länder
hingewiesen habe. So ist die Verwendungsregelung für
personenbezogene Daten in Artikel 10 Abs. 1 des Vorschlags zum Teil weiter gefasst als die Zweckbindungsvorschriften des deutschen Rechts. Während etwa nach
der Strafprozessordnung Daten, die aus bestimmten
heimlichen Überwachungsmaßnahmen erlangt wurden,
nur in solchen Strafverfahren verwendet werden dürfen,
die bestimmte Katalogtaten betreffen, können nach dem
Vorschlag derartige im Vollstreckungsstaat bereits erhobenen Daten auch zur Verfolgung geringfügiger Straftaten oder sogar für Ordnungswidrigkeitenverfahren im
Anordnungsstaat verwendet werden. Es besteht damit die
Gefahr, dass nationale Zweckbindungsstandards im justiziellen Bereich ausgehöhlt werden. Fraglich ist auch, ob
Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote
angemessene Beachtung finden. Besonderen Grund zur
Sorge bereitet schließlich die in der Begründung des Vorschlags aufgezeigte Zukunftsperspektive eines für sämtliche – insbesondere auch für erst noch zu erhebende – Beweismittel geltenden gemeinsamen Instruments. Dieses
würde noch tiefer in die Grundrechte eingreifen, da es
etwa auch die Durchführung von Telekommunikationsüberwachungen oder DNA-Analysen auf einem weitaus
niedrigerem als dem derzeitigen nationalen Sicherungsniveau erlauben würde. Ich begrüße daher, dass sich auch
der Bundestag in seiner Stellungnahme gegenüber der
Bundesregierung kritisch zu dem Vorschlag der Kommission geäußert und Ergänzungen u. a. auch in datenschutzrechtlicher Hinsicht gefordert hat (Bundestagsdrucksache 15/3831).

BfD

20. Tätigkeitsbericht

2003–2004

Als Reaktion auf die Anschläge von Madrid am
11. März 2004 hat die Kommission die Einrichtung eines
Europäischen Strafregisters erwogen (KOM(2004)
221 endg.; Ratsdok. 8200/04). Einem solchen Register
stehe ich sehr zurückhaltend gegenüber, da ein dem deutschen Recht entsprechender Datenschutzstandard kaum
realisierbar sein dürfte und es zu einer doppelten Datenspeicherung käme. Akzeptabel erscheint mir hingegen
der Vorschlag des BMJ sowie schließlich auch des Rates
der Justiz- und Innenminister der EU, statt eines zentralen
europäischen Registers – entsprechend einem derzeit zwischen Deutschland, Frankreich und Spanien laufenden
Projekt – eine Vernetzung der bestehenden nationalen
Strafregister anzustreben, soweit dabei die Rechte der Betroffenen gewährt bleiben. Dem Ziel, den Informationsaustausch zwischen den Strafverfolgungsbehörden der
EU-Mitgliedstaaten zu erleichtern, dient zudem die sog.
„Schwedische Initiative“, über die ich unter Nr. 3.3.4 berichtet habe.
Angesichts uneinheitlicher verfahrensrechtlicher Standards in den einzelnen Mitgliedstaaten begrüße ich das
Grundanliegen eines weiteren Vorschlags der Kommission für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmte Verfahrensrechte in der Europäischen Union
(KOM(2004) 328 endg.; Ratsdok. 9318/04), der gemeinsame Mindestnormen festlegen soll. Allerdings enthält
der Vorschlag Regelungen zu Audio- und Videoaufzeichnungen, die nach datenschutzrechtlichen Maßstäben
äußerst lückenhaft sind. Zumindest aber müsste meines
Erachtens nach Art und Schwere des Tatvorwurfs sowie
nach der Bedeutung der Aussage für das Verfahren differenziert werden. Außerdem wären Ergänzungen betreffend Löschungs- und Zweckbindungsvorschriften
sowie den Ausschluss von Vervielfältigungen erforderlich. Hierauf habe ich im Einvernehmen mit den Datenschutzbeauftragten der Länder das BMJ hingewiesen,
welches ebenso wie der Bundesrat (Bundesratsdrucksache 409/04) meine Auffassung im Wesentlichen teilt.
7.10

Papierakte ade – Justiz goes online

Mit dem Gesetzentwurf eines Justizkommunikationsgesetzes (JKomG) sollen elektronische Kommunikationsformen gleichberechtigt neben die herkömmlichen Mitteilungsformen treten.
Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 28. Oktober
2004 (Bundestagsdrucksache 15/4067) soll die Justiz
weiter für den elektronischen Rechtsverkehr öffnen
(vgl. 19. TB Nr. 8.10.2). Danach sollen mit dem JKomG
die Voraussetzungen für eine umfassende elektronische
Aktenbearbeitung innerhalb der Gerichte ermöglicht werden. Ziel ist die Gleichbehandlung der bisherigen schriftlichen und mündlichen Form mit der neuen elektronischen Form. Im elektronischen Rechtsverkehr wird durch
elektronische Signaturen die Identität und Authentizität
einer Willenserklärung gewährleistet. Um die herkömmlichen Formerfordernisse auf die elektronische Arbeit zu
übertragen, unterscheidet der Gesetzentwurf zwischen
einfacher, fortgeschrittener, qualifizierter oder einer elek-

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