Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

– 117 –

Aufgrund der massiven, über einen langen Zeitraum betriebenen datenschutzrechtlichen Verstöße habe ich
sowohl gegen Mitarbeiter beider gesetzlicher Krankenkassen als auch gegen Mitarbeiter des privaten Versicherungsunternehmens bei den zuständigen Staatsanwaltschaften Strafantrag gemäß § 85a Absatz 2 SGB X wegen
Vergehen nach § 85a Absatz 1 i. V. m. § 85 Absatz 2
Nummern 1, 2, 3 und 5 SGB X gestellt. In beiden Fällen
dauern die Ermittlungen noch an. Angesichts der außergewöhnlichen Schwere der datenschutzrechtlichen Verstöße habe ich darüber hinaus den Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages, die Bundesministerin
für Gesundheit und die für das private Versicherungsunternehmen zuständige Datenschutzaufsichtsbehörde informiert.
10.3

Gesetzliche Unfallversicherung

10.3.1 Gutachterregelung
Die seit langem umstrittene Gutachterregelung aus § 200
Absatz 2 SGB VII hat durch das Urteil des Bundessozialgerichts vom 5. Februar 2008 und die Gesetzesinitiative
zur Änderung des SGB VII neue Impulse erhalten.
Mit Urteil vom 5. Februar 2008 (s. Kasten a zu
Nr. 10.3.1) hat das Bundessozialgericht im Wesentlichen
meine seit Langem vertretene Rechtsposition (u. a.
20. TB Nr. 19.1.3) bestätigt und festgestellt, dass § 200
Absatz 2 SGB VII auch für die von den Unfallversicherungsträgern im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens
eingeholte Gutachten gilt. Damit verbleibt kein datenschutzfreier Raum während eines anhängigen Gerichtsverfahrens. Die seitens der Berufsgenossenschaften
erhobenen Bedenken gegen die Anwendung des § 200
Absatz 2 SGB VII in diesem Verfahrensstadium sind
nicht durchgreifend, was ich immer hervorgehoben habe.
K a s t e n a zu Nr. 10.3.1
Kernsätze des Urteils des BSG vom 5. Februar 2008
– B 2 U 8/07 R – zu datenschutzrechtlich relevanten
Fragen
– Der Begriff des Gutachtens ist als umfassende wissenschaftliche Bearbeitung einer im konkreten Fall
relevanten fachlichen Fragestellung durch den Sachverständigen zu definieren.
– § 200 Abs. 2 SGB VII gilt auch für von den Unfallversicherungsträgern im Laufe eines Gerichtsverfahrens eingeholte Gutachten.
– Ein Rechtsverstoß gegen § 200 Abs. 2 SGB VII
führt zu einem Beweisverwertungsverbot des eingeholten Gutachtens.
Datenschutzfreundlich ist auch die Feststellung des Bundessozialgerichts, bei einem Verstoß gegen § 200
Absatz 2 2. Halbsatz SGB VII i. V. m. § 76 Absatz 2 SGB X bestehe grundsätzlich ein Verwertungsver-

Drucksache 16/12600

bot des eingeholten Gutachtens, weil das verletzte Widerspruchsrecht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung konkretisiere. Es gebe dem Betroffenen die
Möglichkeit, einer Übermittlung seiner besonders schutzwürdigen Daten an einen Gutachter zu widersprechen.
Dabei ließ das Gericht die Frage offen, ob der gleichzeitige Verstoß gegen das Auswahlrecht nach § 200 Absatz 2
1. Halbsatz SGB VII ebenfalls zu einem Beweisverwertungsverbot führt. In der Praxis ist damit aber für die Betroffenen klargestellt, dass ihre unter Verstoß gegen die
Regelungen zum Widerspruchsrecht eingeholten Gutachten nicht verwendet werden dürfen.
Das Bundessozialgericht hat sich auch eingehend mit der
Frage befasst, wann begrifflich ein Gutachten im Sinne
des § 200 Absatz 2 SGB VII vorliegt und wann lediglich
eine beratungsärztliche Stellungnahme. Ein Gutachten
liege nur bei einer umfassenden wissenschaftlichen Bearbeitung einer im konkreten Fall relevanten fachlichen
Fragestellung durch den Sachverständigen vor, die vornehmlich eine eigenständige Bewertung der verfahrensentscheidenden Tatsachenfragen – wie beispielsweise des
Ursachenzusammenhanges – enthalte. Setze sich die
schriftliche Äußerung des Sachverständigen im Wesentlichen mit dem eingeholten Gerichtsgutachten auseinander,
insbesondere im Hinblick auf dessen Schlüssigkeit, Überzeugungskraft und Beurteilungsgrundlage, sei es lediglich eine beratende Stellungnahme. Damit bestätigt das
Bundessozialgericht die im Jahre 2003 zwischen dem
Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, dem Bundesversicherungsamt und mir vereinbarten
Kriterien zur Abgrenzung der Beauftragung mit einem
Gutachten und der Einholung einer beratungsärztlichen
Stellungnahme.
Wie sich in einer Vielzahl von Fällen – auch nach der
Entscheidung des Bundessozialgerichts – gezeigt hat, ist
das Problem, in welchen Fällen den Versicherten die in
§ 200 Absatz 2 SGB VII genannten Rechte zustehen, in
der Praxis aber immer noch nicht zufrieden stellend gelöst. In diesen Fällen hatten die Berufsgenossenschaften
beratende Ärzte mit umfassenden Gutachten zur Zusammenhangsfrage und zur Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit beauftragt und die Auffassung vertreten,
die genannte Regelung sei nicht anzuwenden, da ein beratender Arzt wie ein Mitarbeiter der Berufsgenossenschaft
zu betrachten sei. Die Weitergabe der medizinischen Daten eines Versicherten an einen Beratungsarzt sei daher
keine Datenübermittlung, und nur diese werde von § 200
Absatz 2 SGB VII umfasst.
Diese Auffassung vertritt auch das Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen und auch das Urteil des Bundessozialgerichts lässt eine solche Interpretation zu. Damit
wird aber die gesetzgeberische Intention, die Verfahrenstransparenz zu stärken, in ihr Gegenteil verkehrt. Eine
Beschränkung des Anwendungsbereichs auf Gutachten
eines externen Gutachters ergibt sich nicht aus dem Wortlaut der Vorschrift. Die Auslegung nach dem Zweck der
Regelung kann eine solche Auslegung ebenso wenig stützen. Für den Versicherten ist es völlig undurchschaubar,

BfDI 22. Tätigkeitsbericht 2007-2008

Select target paragraph3