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Einführung
Seitdem das Bundesverfassungsgericht in seinem „Volkszählungsurteil“ 1983 klargestellt hat, dass es sich bei dem
Datenschutz um ein Grundrecht handelt, hat sich die Informationstechnik dramatisch verändert. Die Integration
von Computerchips in alle möglichen Alltagsgegenstände
führt zur Registrierung unseres Verhaltens, unserer Interessen und unserer persönlichen Eigenheiten und macht
sie zunehmend überwachbar. Konnte man vor 25 Jahren
noch darauf hoffen, dass eine Rundumüberwachung an
mangelnden Verarbeitungskapazitäten oder hohen Kosten
scheitern würde, hat die begrenzende Wirkung dieser
Faktoren drastisch nachgelassen. Gerade auch der Berichtszeitraum war von dieser Entwicklung geprägt. Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sind deshalb aufgerufen,
mit den technischen Möglichkeiten verantwortungsbewusst umzugehen und sich selbst zu begrenzen. Nicht alles, was irgendwie sinnvoll erscheint, darf auch realisiert
werden. Stets müssen bei Entscheidungen über den Einsatz von IT-Systemen auch die Wirkungen auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht bedacht werden.
Angesichts dieser Entwicklung müsste man eigentlich erhebliche Anstrengungen erwarten, mit denen etwa der
Gesetzgeber diesen Risiken entgegenwirkt. Leider ist davon wenig zu erkennen. Statt dessen wird der mögliche
Missbrauch von Informationstechnik mit immer mehr
Kontrollmaßnahmen beantwortet, von denen ganz überwiegend Unverdächtige betroffen sind. So wird das Internet in der politischen Debatte bisweilen als „Schule des
Terrors“ bezeichnet, um damit seine möglichst umfassende Überwachung zu begründen. Die Tatsache, dass
auch Straftäter telefonieren oder E-Mails versenden, war
Ausgangspunkt der Anfang 2006 auf europäischer Ebene
beschlossenen Verpflichtung für die Anbieter elektronischer Dienste, sämtliche Verkehrsdaten aller Nutzer ohne
konkreten Verdacht oder Anlass für mindestens sechs
Monate zu speichern. Schließlich wird aus vergleichbarem Grund gefordert, dass Strafverfolgungsbehörden und
Nachrichtendienste zukünftig über das Internet heimlich
auf Computer zugreifen können sollen. Die Feststellung
des BGH, dass solche „Online-Durchsuchungen“ ohne
gesetzliche Grundlage sind, führt bei Vertretern der Sicherheitsbehörden nicht etwa zu der Frage, ob derartige
Maßnahmen unverhältnismäßig in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen. Stattdessen wird
die gesetzliche Legitimierung dieser Ermittlungsmethode
gefordert.
Die Entwicklung zur Informationsgesellschaft ist unumkehrbar. Zu beeinflussen ist allerdings, ob diese Gesellschaft dauerhaft durch mehr Entfaltungschancen für den
Einzelnen oder von immer weitergehender Überwachung
geprägt ist. Von zentraler Bedeutung wird dabei sein, wie
der Gesetzgeber von seinen Gestaltungsmöglichkeiten
Gebrauch macht, ob er die Grundrechtspositionen stärkt
oder ob er immer neue Grundrechtseinschränkungen legitimiert. Für äußerst bedenklich halte ich es in diesem Zusammenhang, dass im Berichtszeitraum wiederholt Einschränkungen des Datenschutzes Gesetzeskraft erlangten
und es dem Bundesverfassungsgericht überlassen blieb,
unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe rückgängig zu
machen.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist eines
der wichtigsten Bürgerrechte der Informationsgesellschaft. Es ist nicht zu erwarten, dass die technologisch bedingten Kontroll- und Überwachungsrisiken ohne gesetzliche Beschränkungen wirksam beherrscht werden
können. Dies betrifft nicht nur das Verhältnis Staat-Bürger, sondern auch den Umgang der Wirtschaft mit personenbezogenen Daten. Der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, dass umfassende Persönlichkeitsprofile
nicht mit dem Menschenbild des Grundgesetzes vereinbar
sind, ist angesichts immer effektiverer Möglichkeiten
zum Sammeln, Zusammenführen und Auswerten von Daten aktueller denn je. Umso bedenklicher ist es, dass die
immer wieder angekündigte Anpassung des Datenschutzrechts an neue technologische Entwicklungen bis heute
keinen Schritt vorangekommen ist, während an Gesetzgebungsvorhaben kein Mangel herrscht, die das informationelle Selbstbestimmungsrecht einschränken. Angesichts
dieser bedenklichen Schieflage ist daran zu erinnern, dass
die verfassungsrechtlich verankerten Grundsätze der
Menschenwürde und der Verhältnismäßigkeit für eine demokratische Informationsgesellschaft von entscheidender
Bedeutung sind. Daraus ergibt sich, dass es eine Rundumüberwachung genauso wenig geben darf wie eine Kontrolle des Kernbereichs der Privatsphäre.
Ich möchte auch bei diesem Bericht darauf hinweisen,
dass die Tätigkeiten – auch wenn über sie in der
„Ich-Form“ berichtet wird – größtenteils von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgeführt wurden. Ihnen
möchte ich für ihr großes Engagement und ihre erfolgreiche Arbeit danken. Allerdings sind die Grenzen der Belastbarkeit erreicht. In den letzten Jahren hat sich allein
die Zahl der Eingaben fast verdoppelt. Die Aufgabe des
Bundesbeauftragten für die Informationsfreiheit ist hinzugekommen, ohne dass neue Mitarbeiter in der im Vorblatt
des Gesetzentwurfs genannten Zahl hierfür bereitgestellt
wurden. Es ist deswegen absehbar, dass ohne Personalverstärkung die Arbeit nicht in gleicher Intensität und
Qualität fortgesetzt werden kann.
Mein Dank gilt auch den Abgeordneten aller Fraktionen
des Deutschen Bundestages, die sich nachhaltig für den
Datenschutz interessiert und engagiert haben, und den
Vertretern von öffentlichen und privaten Stellen, für die
Datenschutz eine Bedingung erfolgreichen Handelns ist.
Peter Schaar
BfDI 21. Tätigkeitsbericht 2005-2006
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