Drucksache 14/5555
– 230 –
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode
Anlage 26 (zu Nrn. 25.2.1, 25.2.2)
Entschließung der 60. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder
am 12./13. Oktober 2000 zu:
Datenschutzrechtliche Konsequenzen aus der Entschlüsselung des menschlichen Genoms
Bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind
in den letzten Monaten wohl entscheidende Durchbrüche
gelungen. Für mehr als 20, oft vererbliche Krankheiten
sind bereits Gentests zu erwerben, mit denen in Labors
analysiert werden kann, ob eine Erkrankung vorliegt bzw.
in welchem Umfang ein Erkrankungsrisiko besteht. Viele
dieser Krankheiten sind allerdings bisher nicht heil- oder
behandelbar.
Gentechnische Untersuchungen beim Menschen eröffnen
den Zugang zu höchstpersönlichen und hochsensiblen Informationen in einem Maße, das die Intensität bisheriger
personenbezogener Informationen ganz erheblich übersteigt. Durch den genetischen Einblick in den Kernbereich der Privatsphäre, etwa in Gesundheitsdisposition,
Anlagen der Persönlichkeitsstruktur oder den voraussichtlichen Lebensverlauf, entsteht eine ganz neue Qualität des Wissens und des Offenlegens von persönlichsten
Daten. Sowohl für die Betroffenen als auch für dritte Personen, insbesondere Familienangehörige, ist es von entscheidender Bedeutung, ob und inwieweit sie selbst und
wer außer ihnen von den Ergebnissen Kenntnis bekommt.
Davor steht die Frage, ob und aus welchen Anlässen überhaupt genetische Untersuchungen am Menschen vorgenommen werden dürfen. Zur informationellen Selbstbestimmung gehört auch das Recht auf Nichtwissen.
Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes
und der Länder fordert, dass für die Zulässigkeit gentechnischer Untersuchungen beim Menschen und für den Umgang mit den dabei gewonnenen Informationen sehr
schnell klare und verbindliche Prinzipien entwickelt werden, um auch die informationelle Selbstbestimmung in
diesem Kernbereich zu sichern und zugleich eine „genetische Diskriminierung“ bei der Gewinnung oder Verwendung genetischer Informationen, etwa im Arbeitsverhältnis oder beim Abschluss von Versicherungsverträgen
zu verhindern. Auf der Grundlage dieser und in der „Entschließung über Genomanalyse und informationelle
Selbstbestimmung“ vom 26. Oktober 1989 formulierten
Grundsätze wird die Konferenz an der Ausgestaltung mitwirken.
Die Datenschutzbeauftragten erinnern an ihre Grundsätze
aus der Entschließung von 1989 bezüglich der Genomanalyse:
1. Die Genomanalyse darf grundsätzlich nur auf freiwilliger Basis nach umfassender Aufklärung der Betroffenen vorgenommen werden; ausgenommen sind
Straf- und Abstammungsverfahren.
2. Die jederzeit widerrufliche Einwilligung muss sich
auch auf die weitere Verwendung der gentechnischen
Informationen erstrecken. Im Falle eines Widerrufs
sind die gewonnnen Informationen zu löschen oder an
den Betroffenen herauszugeben.
3. Jede Genomanalyse muss zweckorientiert vorgenommen werden. Es ist diejenige genomanalytische Methode zu wählen, die keine oder die geringste Menge
an Überschussinformationen bringt. Überschussinformationen sind unverzüglich zu vernichten.
4. Es ist zu prüfen, inwieweit genomanalytische Untersuchungsmethoden einer staatlichen Zulassung bedürfen. Für DNA-Sonden ist dies jedenfalls zu bejahen.
5. Die Genomanalyse im gerichtlichen Verfahren muss
auf die reine Identitätsfeststellung beschränkt werden; es dürfen keine genomanalytischen Methoden
angewandt werden, die Überschussinformationen zur
Person liefern. Die Nutzung der Genomanalyse im
Strafverfahren setzt eine normenklare gesetzliche Ermächtigung voraus. Präzise Regelungen müssen u. a.
sicherstellen, dass genomanalytische Befunde einer
strengen Zweckbindung unterworfen werden.
6. Im Arbeitsverhältnis sind die Anordnung von Genomanalysen oder die Verwendung ihrer Ergebnisse
grundsätzlich zu verbieten. Ausnahmen bedürfen der
gesetzlichen Regelung. Eine bloße Einwilligung des
Arbeitnehmers ist wegen der faktischen Zwangssituation, der er im Arbeitsleben häufig unterliegt, nicht
ausreichend.
7. Genomanalysen im Versicherungswesen sind grundsätzlich nicht erforderlich und mit dem Prinzip der
Versicherungen, Risiken abzudecken und nicht auszuschließen, unvereinbar. Dies sollte durch eine Klarstellung im Versicherungsvertragsgesetz deutlich gemacht werden.
8. Im Rahmen der pränatalen Diagnostik dürfen nur Informationen über das Vorhandensein oder Fehlen von
Erbanlagen erhoben werden, bei denen eine Schädigung heilbar ist oder die zu einer so schwerwiegenden
Gesundheitsschädigung des Kindes führen würden,
dass ein Schwangerschaftsabbruch straffrei bliebe.
Reihenuntersuchungen an Neugeborenen dürfen sich
nur auf solche Erbkrankheiten erstrecken, die bei frühzeitiger Erkennung eines genetischen Defekts geheilt
oder zumindest spürbar therapeutisch begleitet werden können. Die Eltern müssen nach umfassender
fachkundiger Beratung in voller Freiheit über die Anwendung genomanalytischer Methoden entscheiden