Drucksache 18/12850
– 1432 –
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
so gut wie nie möglich. Damit bleibt ihnen die Geltendmachung etwaiger Folgerechte auf Löschung, Berichtigung oder Genugtuung grundsätzlich verwehrt.7781
Des Weiteren bringt der Möglichkeitsaspekt im Zusammenhang mit fehlender, angemessener Transparenz
und mangelnder Kontrollierbarkeit von Massenüberwachung eine weitere erhebliche Gefahr mit sich: Die
Gefahr der Selbstzensur. Sie ist Resultat des stetigen Generalverdachts, der diffusen Unkenntnis, gepaart mit
einem Wissen über die potentielle Möglichkeit staatlichen Überwachtwerdens – auch in höchstpersönlichen
Lebensbereichen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) warnte in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung vor eben jenem „Gefühl des unkontrollierbaren Beobachtetwerdens“, das durch die anlasslose,
massenhafte Datenspeicherung „in besonderer Weise“ befördert wird.7782 Denn die Massenüberwachung
bringt als staatliches Handeln mittelbar einschüchternde, abschreckende Effekte hervor, die die Bürger_innen
davon abhalten, von ihren Freiheitsrechten Gebrauch zu machen. So betrifft Überwachung nicht nur die jeweils durch einen konkreten, individuellen Grundrechtseingriff verletzte Person, sondern hat permanente,
mittelbare Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes und ihr Gemeinwohl.7783 Bei diesen sogenannten
Chilling Effects handelt es sich um eine in der Rechtsprechung des BVerfG und des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) seit langem anerkannte Rechtsfigur, die den Grundrechten damit einen
objektivrechtlichen Schutzgehalt zuspricht. So hob das BVerfG bereits im Jahr 1983 in seinem Volkszählungsurteil hervor:
„Individuelle Selbstbestimmung setzt (…) – auch unter den Bedingungen moderner
Informationsverarbeitungstechnologien –voraus, daß dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der
Möglichkeit gegeben ist, sich auch entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu
verhalten. (…) Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in
der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit
über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert
und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden,
wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen.“7784
Das Resultat: Anlasslose Massenüberwachung beeinträchtigt nachhaltig die unbefangene Wahrnehmung der
Freiheitsrechte jeder/s Einzelnen. Eine Totalerfassung der Telekommunikation steht jedoch, das betont das
BVerfG selbst, im Widerspruch zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik.7785
7781)
7782)
7783)
7784)
7785)
Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2014 – 6 A 1/13 –, BVerwG149, 359-373 http://www.bverwg.de/entscheidungen/entscheidung.php?ent=280514U6A1.13.0, abgerufen am 16. Juni 2017; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 20. September 2016 –
2 BvE 5/15 –, http://www.bverfg.de/e/es20160920_2bve000515.html , abgerufen am 13.Juni 2017.
BVerfG, Urteil vom 2. März 2010 – 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260 (323),
http://www.bverfg.de/e/rs20100302_1bvr025608.html, abgerufen am 13. Juni 2017.
Assion, Überwachung und Recht, Telemedicus-Schriftenreihe Bd. 1, Sommerkonferenz 2014, S. 33ff. https://www.telemedicus.info/uploads/Dokumente/Ueberwachung-und-Recht-Tagungsband-Soko14.pdf, abgerufen am 12.Juni 2017; Cornelius,
Strafrechtliche Verantwortlichkeiten bei der Strategischen Telekommunikationsüberwachung, JuristenZeitung 2015, 693 (694).
BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 –, BVerfGE 65, 1-71 (mit eigenen Hervorhebungen); vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009 (Az. 1 BvR 2492/08) Rn. 122f., abrufbar unter
https://www.bverfg.de/e/rs20090217_1bvr249208.html.
BVerfG, Urteil vom 2. März 2010 – 1 BvR 256/08, BVerfGE 125, 260, 324,
https://www.bverfg.de/e/rs20100302_1bvr025608.html.