hat Forensic Architecture ein lebensgroßes Modell des
Internet-Cafés gebaut und den Vorfall vollständig nachgestellt. Dies fand am 6. und 11. März 2017 im Haus der
Kulturen der Welt (HKW) in Berlin statt. Die Hauptfrage,
die durch dieses Experiment beantwortet werden sollte,
lautet: Hat Andreas Temme die Wahrheit über den Vorfall
gesagt? Könnte er Zeuge des Mordes geworden sein?
Zeuge geworden zu sein bedeutet in diesem Zusammenhang, den Vorfall sinnlich erfahren zu haben. Genauer
gesagt haben wir folgende Fragen gestellt: Könnte Andreas Temme von seiner Position im Hinterzimmer aus die
Schüsse gehört haben? Könnte er die Leiche gesehen
haben, als er das Internet-Café durch das Vorderzimmer
verließ? Und ist anzunehmen, dass er den Schmauchgeruch im Vorderzimmer wahrgenommen hat?
Aus diesen Fragen ergeben sich einige weitere: Haben
die Polizei, das Gericht und Andreas Temmes Arbeitgeber, das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen, in
gutem Glauben gehandelt, als sie seine Aussage akzeptierten, und falls nicht, warum nicht?
Das Projekt hat es sich also zur Aufgabe gemacht, auf
Grundlage einer Untersuchung öffentlich gemachter
Polizeidokumente, aber auch von Interviews mit Zeugen
und Zeuginnen sowie räumlichen, klanglichen und olfaktorischen Nachstellungen und Simulationen, nicht nur
den Mord zu untersuchen, sondern auch seine mögliche
Vertuschung (...) .
3. Methodologie
Wir begannen mit einer Durchsicht aller verfügbaren
Unterlagen. Dazu gehörten Polizeiberichte und -aufzeichnungen, einschließlich einer von der Polizei angefertigten
Video-Nachstellung des Vorfalls, Fotos vom Tatort sowie
Computer- und Telefondaten, außerdem Grundrisse, Luftund Bodenaufnahmen sowie schriftliche und mündliche
Zeugenaussagen. Wir haben die Protokolle von Andreas
Temmes Zeugenaussage vor Gericht untersucht. Wir
haben vor Ort eigene Messungen vorgenommen und
Zeugen interviewt.
Anschließend haben wir mehrere mögliche Szenarien
mit unterschiedlichen zeitlichen Abläufen entwickelt,
dabei zentrale Protagonisten, Räume, Gegenstände und
Zeitfenster identifizierend. Im physischen Modell des
Tatorts habe wir eine Reihe unterschiedlicher Szenarien
nachgestellt, um die Möglichkeit und Plausibilität der
verschiedenen zeitlichen Abläufe zu prüfen.
Wir haben auch drei auf Sinneseindrücke fokussierende
Tests vorgenommen, die in diesem kurzen vorläufigen
Bericht im Mittelpunkt stehen sollen:
3a. Sicht
Halit Yozgats Leiche wurde zuerst von seinem Vater
Ismail Yozgat entdeckt, als dieser einige Minuten nach
dem Mord ins Internet-Café zurückkehrte. Ismail Yozgat
hat beschrieben, sein Sohn Halit habe mit dem Gesicht
nach unten hinter dem Empfangstresen gelegen. Ismail

Yozgat hat eine Reihe von Skizzen angefertigt (einige
davon auf Bitte von Forensic Architecture), auf denen die
Körperposition dargestellt ist. Andreas Temme hat ausgesagt, er habe die Leiche nicht gesehen, als er sich nach
vorne gebeugt habe, um Geld auf dem Empfangstresen
abzulegen, bevor er das Café verließ. Andreas Temme
hat den Vorgang auf Aufforderung der hessischen Polizei
nachgestellt, um seine Zeugenaussage zu stützen. Eine
Videoaufzeichnung dieser Nachstellung ist an die Öffentlichkeit gelangt, das heißt im Internet verfügbar gemacht
worden. Wir haben dieses Nachstellungsvideo u. a. mithilfe von Bewegungsmeldungs-Software untersucht, um
die genaue Position sowie die Bewegungen von Andreas
Temmes Körper, insbesondere seine Kopfes, zu bestimmen. Wir haben somit Andreas Temmes mobiles Sichtfeld digital reproduziert: auf einem Computer und mit
Kameras (Go-Pro- und Digitalkameras mit 33 mm Linsen),
die während einer Nachstellung im lebensgroßen Modell
am Kopf eines Schauspielers befestigt wurden. Wir
haben es uns also zur Aufgabe gemacht zu untersuchen,
ob auf der Grundlage von ATs eigenen Angaben, eine
Zeugenschaft des Mordes möglich ist.
3b. Schall
Die Richter des NSU-Prozesses in München haben
Andreas Temmes Aussage akzeptiert, dass er sich im
Hinterzimmer des Internet-Cafés, an einer als »PC-2«
bekannten Position befand, während im Vorderzimmer
der Mord verübt wurde. Im Rahmen seiner Aussage hat
Andreas Temme, ein ausgebildeter Schütze, angegeben,
er habe die zwei Schüsse, mit denen Halit Yozgat getötet
wurde, nicht gehört.
Forensic Architecture hat das auf Waffenanalyse spezialisierte Unternehmen Armament Research Services
(ARES) beauftragt, die Tonsignatur der Mordwaffe und
der eingesetzten Munition, das heißt einer Česká CZ
83 mit 7,65 mm Browning-Munition und Schalldämpfer,
aufzunehmen.
ARES hat daraufhin eine Česká CZ 83 Pistole beschafft
und fünf Schüsse aufgenommen. ARES hat bestätigt,
dass die Tonsignatur und der Tonpegel denen einer anderen Handfeuerwaffe ähnlichen Kalibers (einer Colt .32
Pistole) gleichen, bei der vergleichbare Munition verwendet wird. Beide Waffen haben gleichwertige Spitzenpegelsignaturen von zwischen 157 und 158.5 dBA.
Die Colt .32 Pistole wurde dann mit zwei Schalldämpfertypen versehen und es wurden jeweils fünf Schüsse
abgefeuert. Keiner dieser Schüsse wurde dabei auf unter
130 dBA gedämpft.
Unter Einsatz einer digitalen Simulation sowie einer
lebensgroßen Nachstellung hat Forensic Architecture
anschließend, in Zusammenarbeit mit einem Berater der
Firma Anderson Acoustics, die Hörbarkeit dieser Schüsse von ATs Position (PC-2) aus geprüft.
Zu diesem Zweck hat Forensic Architecture einen für
die Generierung von Tönen mit hohen Dezibelwerten
geeigneten Lautsprecher beschafft und ihn am Stand61

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