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sprechung herausgearbeiteten und aus der Menschwürde
abgeleiteten Begriffs bildet in meinen Augen den
Schwerpunkt des Urteils. In diesen Kernbereich darf die
Überwachung auch nicht im Interesse der Strafverfolgung
eingreifen. Dies bedeutet, dass heimliches Abhören zu
unterbleiben hat, wenn sich eine Person allein oder ausschließlich mit Personen in der Wohnung aufhält, zu denen sie in einem besonderen, diesen Kernbereich betreffenden Vertrauensverhältnis steht und keine konkreten
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die zu erwartenden
Gespräche einen unmittelbaren Straftatbezug aufweisen.
Gemeint sind Familienangehörige oder sonstige enge
Vertraute, also auch persönliche Freunde. Der Schutz des
Kernbereichs schließt daher jede Überwachung rund um
die Uhr und auch eine durchgängige automatische Aufzeichnung aus.

personen oder von verdeckten Ermittlern. Hiervon betroffen sind nicht nur Bundesgesetze, sondern beispielsweise
auch die Polizei- und Verfassungsschutzgesetze der Länder. Auch wenn diese Gesetze nicht ausdrücklich in dem
Urteil erwähnt sind, weil sie nicht Gegenstand des Verfahrens waren, strahlen doch die in dem Urteil zum Ausdruck kommende Wertentscheidung und die maßgebliche
Argumentation des Gerichts auf diese Eingriffsbefugnisse
aus (vgl. Nr. 5.1.2).

Die akustische Wohnraumüberwachung kann im Übrigen
nur dann gerechtfertigt sein, wenn es um die Aufklärung
besonders schwerer Straftaten geht. Der mit § 100c
Abs. 1 Nr. 3 Strafprozessordnung (StPO) 1998 eingeführte Straftatenkatalog geht nach den Feststellungen des
Gerichts weit über den zulässigen Rahmen hinaus. So
nennt er bereits zahlreiche Vergehen, teilweise ohne Mindeststrafe, als Voraussetzung für die Anordnung eines
großen Lauschangriffs. Von einer besonderen Schwere
der Tat im Sinne des Artikel 13 Abs. 3 GG ist aber nur
dann auszugehen, wenn die Höchststrafe mindestens fünf
Jahre beträgt.

1. Artikel 13 Abs. 3 GG in der Fassung des Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 13) vom
26. März 1998 (BGBl. I S. 610) ist mit Artikel 79
Abs. 3 GG vereinbar.

Mit begrüßenswerter Deutlichkeit hat das BVerfG auch
die nur mangelhafte Berücksichtigung der Aussage- und
Zeugnisverweigerungsrechte gerügt. So müssen die gesetzlichen Regelungen das Abhören und Aufzeichnen untersagen, wenn absolut geschützte Gespräche erfasst werden sollen. § 100d Abs. 3 StPO genügt dem nicht, da für
Zeugnisverweigerungsberechtigte, zu denen insbesondere
die engsten Familienangehörigen gehören, in der Vorschrift kein generelles Überwachungsverbot, sondern nur
ein Beweisverwertungsverbot vorgesehen ist und für Gespräche mit sonstigen engsten Vertrauten keinerlei Einschränkungen bestehen. Zudem fehlt es auch an einer Löschungsverpflichtung für solcher Art erlangte Daten.
Bedeutsam ist auch die Forderung des Gerichts, dass nach
einem Lauschangriff grundsätzlich sämtliche von dieser
Maßnahme betroffenen Personen zu unterrichten sind, da
nur so der gerichtliche Rechtsschutz garantiert werden
kann.
Darüber hinaus betreffen das Urteil zur akustischen
Wohnraumüberwachung und der ebenfalls am
3. März 2004 verkündete Beschluss zur Post- und Telefonüberwachung nach dem Außenwirtschaftsgesetz (vgl.
Nr. 5.4.3) wichtige Vorschriften der StPO, mit denen die
Telefonüberwachung geregelt wird. Auf den Prüfstand
gehören deshalb auch weitere Eingriffsbefugnisse insbesondere zur verdeckten Datenerhebung mit zwangsläufigen Berührungen zum Bereich privater Lebensgestaltung,
wie etwa die längerfristige Observation, der verdeckte
Einsatz technischer Mittel, der Einsatz von Vertrauens-

K a s t e n zu Nr. 7.1.1
BVerfG – Urteil vom 3. März 2004
Leitsätze:

2. Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde gemäß
Artikel 1 Abs. 1 GG gehört die Anerkennung eines
absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung. In diesen Bereich darf die akustische
Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung (Artikel 13 Abs. 3 GG) nicht eingreifen.
Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwischen der Unverletzlichkeit der
Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 in Verbindung mit
Artikel 1 Abs. 1 GG) und dem Strafverfolgungsinteresse findet insoweit nicht statt.
3. Nicht jede akustische Überwachung von Wohnraum
verletzt den Menschenwürdegehalt des Artikel 13
Abs. 1 GG.
4. Die auf die Überwachung von Wohnraum gerichtete
gesetzliche Ermächtigung muss Sicherungen der Unantastbarkeit der Menschenwürde enthalten sowie
den tatbestandlichen Anforderungen des Artikel 13
Abs. 3 GG und den übrigen Vorgaben der Verfassung
entsprechen.
5. Führt die auf eine solche Ermächtigung gestützte
akustische Wohnraumüberwachung gleichwohl zur
Erhebung von Informationen aus dem absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung,
muss sie abgebrochen werden und Aufzeichnungen
müssen gelöscht werden; jede Verwertung solcher
Informationen ist ausgeschlossen.
6. Die Vorschriften der Strafprozessordnung zur Durchführung der akustischen Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung genügen den
verfassungsrechtlichen Anforderungen im Hinblick
auf den Schutz der Menschenwürde (Artikel 1
Abs. 1 GG), den vom Rechtsstaatsprinzip umfassten
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Gewährung
effektiven Rechtsschutzes (Artikel 19 Abs. 4 GG)
und den Anspruch auf rechtliches Gehör (Artikel 103 Abs. 1 GG) nicht in vollem Umfang.

BfD

20. Tätigkeitsbericht

2003–2004

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