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abzuleitender unantastbarer Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren ist. Zur Entfaltung der Persönlichkeit in diesem Kernbereich gehört die Möglichkeit,
innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie
Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen. Maßstab für die
Wahrung der Menschenwürde bei staatlichen Eingriffen
in Grundrechte bilden außer Artikel 13 GG im Wohnungsbereich und Artikel 10 GG im Bereich des Brief-,
Post- und Fernmeldegeheimnisses auch der Schutzbereich der Artikel 1 und 2 GG hinsichtlich des Persönlichkeitsrechts. In dieser Konsequenz hat das BVerfG in
seinem Beschluss vom 3. März 2004 zu den §§ 39 ff. Außenwirtschaftsgesetz (1 BvF 3/92) dem Gesetzgeber aufgegeben, bei einer Neuregelung der Überwachungsbefugnisse zur Straftatenverhütung im Außenwirtschaftsverkehr auch die Grundsätze zu beachten, die das
Gericht u. a. in seinem Urteil zur akustischen Wohnraumüberwachung niedergelegt hat. Damit wird der Gesetzgeber ausdrücklich verpflichtet, die hier getroffenen
verfassungsrechtlichen Vorgaben auch bei der präventiven polizeilichen Telekommunikationsüberwachung zu
beachten.
Auswirkungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu überprüfen. Ich erwarte, dass auch die anderen
präventiven Eingriffsbefugnisse für die Polizei und die
Nachrichtendienste auf den Prüfstand gestellt werden.
Zusätzliche Hinweise hierfür dürfte das noch ausstehende
Urteil des BVerfG zu der Verfassungsbeschwerde gegen
die Befugnis zur präventiven Telekommunikationsüberwachung zum Zwecke der Straftatenverhütung nach dem
Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz geben, zu der auch ich eine datenschutzrechtliche Stellungnahme abgegeben habe.
Vor diesem Hintergrund haben die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder in einer Entschließung der
67. Datenschutzkonferenz (vgl. Kasten a zu Nr. 5.1.2) gefordert, alle Formen verdeckter Datenerhebung zu Präventivzwecken wie die präventive Telekommunikationsüberwachung, die längerfristige Observation, den
verdeckten Einsatz technischer Mittel, den Einsatz von
Vertrauenspersonen und anderer nachrichtendienstlicher
Mittel an den Maßstäben der verfassungsgerichtlichen
Entscheidungen vom 3. März 2004 auszurichten und die
einschlägigen gesetzlichen Befugnisregelungen des Bundes und der Länder ggf. neu zu fassen (vgl. Kasten b
zu Nr. 5.1.2).
– Überprüfung der Straftatenkataloge bei Eingriffsbefugnissen, bei denen der Gesetzgeber ein bestimmtes
Gewicht der zu verhütenden Tat voraussetzt;
Die unterschiedliche Bewertung der Auswirkungen der
verfassungsgerichtlichen Entscheidungen vom 3. März
2004 auf präventive Eingriffsbefugnisse zeigt sich vor allem hinsichtlich des Erfordernisses kernbereichsschützender Regelungen. So ist das Gesetz zur Neuregelung
der präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt (ZKA) vom Deutschen
Bundestag ohne Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung verabschiedet worden
(vgl. Nr. 5.4.3). Es bedarf zwar noch der Prüfung, wie die
vom BVerfG im o. g. Urteil zur akustischen Wohnraumüberwachung aufgestellten Grundsätze insgesamt auf präventive Eingriffsbefugnisse – vor allem im Hinblich auf
deren praktische Anwendbarkeit – übertragbar sind. Das
Absehen von jeglicher kernbereichsschützender Regelung wäre aus meiner Sicht verfassungsrechtlich nicht
vertretbar. Zu diesem Ergebnis kamen auch die Vertreter
der Wissenschaft anlässlich des von mir veranstalteten
Symposiums zum „Großen Lauschangriff“ (vgl. Nr. 7.1.3).
Die rechtspolitische Diskussion dürfte jedoch erst am Anfang stehen. Insofern begrüße ich die Entscheidung des
Deutschen Bundestages, die Gültigkeit der Befugnisse
zur präventiven Telekommunikations- und Postüberwachung durch das ZKA auf ein Jahr zu befristen, verbunden mit der Aufforderung an die Bundesregierung, die
BfD
20. Tätigkeitsbericht
2003–2004
K a s t e n b zu Nr. 5.1.2
Bei der Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen vom 3. März 2004 ist insbesondere auf folgende Aspekte zu achten:
– Schaffung von Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung, insbesondere bei
Gesprächen mit Familienangehörigen oder Vertrauten sowie mit Berufsgeheimnisträgern;
– Normenklare Eingrenzung der Eingriffsbefugnisse
für heimliche Überwachungsmaßnahmen, indem an
Tatsachen angeknüpft wird, die einen erfahrungsgemäß hinreichend sicheren Schluss auf die Tatsachenbasis und auf den Grad der Wahrscheinlichkeit
der geplanten Tat zulassen;
– Einhaltung des Grundsatzes der Zweckbindung bei
Weiterverwendung der durch die Eingriffsmaßnahmen erlangten Daten sowie Normierung einer Kennzeichnungspflicht zur Sicherstellung dieser Zweckbindung;
– Normierung einer Pflicht zur Benachrichtigung aller
von der Eingriffsmaßnahme Betroffenen, von der nur
in den vom Gericht genannten Ausnahmefällen abgesehen werden darf.
5.1.3
Kfz-Kennzeichenerfassung
Einige Bundesländer beabsichtigen, die automatische
Kfz-Kennzeichenerfassung als neues Fahndungsmittel
einzusetzen. Der Abgleich der Kennzeichen aller an den
Erfassungsgeräten vorbeifahrenden Kfz mit Fahndungsdaten betrifft ganz überwiegend völlig unbescholtene
Autofahrer.
Seit Ende 2003 wird in den Gremien der Innenministerkonferenz die Einführung der automatisierten Kfz-Kennzeichenerfassung als neues Fahndungsmittel beraten.
Beim Einsatz dieser Technik werden die Kfz-Kennzeichen aller an den Erfassungsgeräten vorbeifahrenden Verkehrsteilnehmer zum Abgleich mit dem polizeilichen
Fahndungssystem aufgenommen. Entsprechende Pilotverfahren wurden in Bayern und Thüringen durchgeführt.
In Rheinland-Pfalz und in Hessen sind die jeweiligen