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7.3.1

Erweiterung des Katalogs
der Anlassdelikte

DNA-Analysen dürfen jetzt auch bei weniger schwerwiegenden Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
und zur Feststellung des Geschlechts angeordnet werden.
Mit dem Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur
Änderung anderer Vorschriften vom 27. Dezember 2003
(BGBl. I S. 3007) ist am 1. April 2004 inzwischen das
sechste Gesetz in Kraft getreten, das seit 1997 die DNAAnalyse berührt. Neben Änderungen des materiellen
Strafrechts mit der Einführung neuer Straftatbestände ändert das Gesetz in Artikel 3 Vorschriften über die Genomanalyse in der Strafprozessordnung. Danach ist auch die
Bestimmung des Geschlechts in einem anhängigen Strafverfahren durch molekulargenetische Untersuchungen
zulässig, während sie bisher nur erlaubt war zur „Feststellung der Abstammung oder der Tatsache, ob aufgefundenes Spurenmaterial von dem Beschuldigten oder dem
Verletzten stammt“ (§ 81e Abs. 1 Satz 1 StPO). Darüber
hinaus ist die Geschlechtsbestimmung auch zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren nach § 81g
Abs. 1 StPO und in Fällen eines Leichenfundes nach
§ 88 StPO zulässig.
Aus meiner Sicht ist gegen die molekulargenetische Bestimmung des Geschlechts nichts einzuwenden, da es sich
bei einem bekannten Verdächtigen um ein offenkundiges
Merkmal handelt und der Eingriff im Verhältnis zum kriminaltechnischen Nutzen hinnehmbar ist. Bei aufgefundenem Spurenmaterial ist die Kenntnis des Geschlechts
eines Spurenlegers für die Strafverfolgung ein wichtiger
Ermittlungsansatz, dem schutzwürdige Interessen des
noch unbekannten Betroffenen schwerlich entgegengehalten werden können.
Nach der Neufassung des § 81g Abs. 1 StPO ist die
DNA-Identitätsfeststellung für künftige Strafverfahren
auch dann zulässig, wenn der Beschuldigte einer Straftat
gegen die sexuelle Selbstbestimmung verdächtig ist, auch
wenn keine Straftat von erheblicher Bedeutung vorliegt.
Entscheidend ist, dass an dem Erfordernis einer qualifizierten richterlichen Prognose festgehalten wird. Danach
ist eine DNA-Identitätsfeststellung für künftige Strafverfahren nur dann zulässig, wenn ein Richter entscheidet, es
bestehe Grund zu der Annahme, dass der Verdächtige
aufgrund seiner Persönlichkeit und wegen der Art oder
Ausführung der Tat oder sonstiger Erkenntnisse auch in
Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen
werde (Negativprognose). In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich, dass mit der Gesetzesnovelle
auch die Anforderungen an die Begründung des Gerichts
für die Anordnungsentscheidung präzisiert wurden (§ 81g
Abs. 3 Satz 2 StPO). Für die Prognoseentscheidung ist es
erfreulicherweise dabei geblieben, dass die künftige
Straftat nach wie vor ein Delikt von erheblicher Bedeutung sein muss, selbst wenn die Anlassstraftat nicht dieser
qualifizierten Deliktsgruppe zuzurechnen ist. Dazu hat
das Bundesverfassungsgericht in seinem Kammerbeschluss vom Dezember 2001 (NJW 2001, S. 2320) eine
auf den Einzelfall bezogene richterliche Entscheidung

BfD

20. Tätigkeitsbericht

2003–2004

gefordert und weiter ausgeführt, dass die Prognoseentscheidung nach § 81g StPO von Verfassungs wegen voraussetze, dass eine zureichende Sachaufklärung insbesondere durch Beiziehung der verfügbaren Straf- und
Vollstreckungsakte, des Bewährungsheftes und zeitnaher
Auskünfte aus dem Bundeszentralregister vorangegangen
ist und die für sie bedeutsamen Umstände nachvollziehbar abgewogen werden. Ich kann mir kaum vorstellen,
wie eine solche abwägende Prognoseentscheidung ohne
die Indizwirkung einer einschlägigen Anlassstraftat von
einigem Gewicht möglich sein soll. Den gänzlichen Verzicht auf eine bestimmte Anlassstraftat – wie in der kriminalpolitischen Diskussion bisweilen gefordert – halte
ich deshalb nicht für vertretbar. Aber selbst der pauschale
Verweis auf „eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184f des Strafgesetzbuches)“, wie
in der Neufassung des § 81g StPO vorgesehen, ist in meinen Augen nur bei verfassungskonformer einschränkender Auslegung in dem Sinne haltbar, dass als Anlassstraftat nur die schwerwiegenderen Delikte dieses Abschnitts
des StGB in Betracht kommen. Dies hat offenbar auch der
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages so gesehen,
als er in seinem Bericht an das Plenum vom 1. Juli 2003
ausführte, dass in den Fällen der §§ 184d und 184e StGB
(Prostitution an bestimmten Orten und jugendgefährdende Prostitution) „eine molekulargenetische Erfassung
mangels Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme im Einzelfall nahezu nie in Betracht kommen
wird“.
7.3.2

Sind der genetische und der
herkömmliche Fingerabdruck
gleichzusetzen?

Vielfach wird gefordert, die DNA-Analyse als normale erkennungsdienstliche Maßnahme zu gestalten, obgleich
ihr Erkenntnispotential weit über Fingerabdruck, Foto
und Vermessungen hinausgeht.
Im politischen Raum werden gerade in jüngster Zeit immer wieder Forderungen erhoben, die auf eine breitere
Anwendung der DNA-Analyse abzielen. Die Ständige
Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder
hat gefordert, die DNA-Analyse im nicht-codierenden
Bereich mit den sonstigen erkennungsdienstlichen Maßnahmen im Rahmen des § 81b 2. Alt. StPO gleichzustellen. Die Justizministerkonferenz beauftragte ihren Strafrechtsausschuss mit der Prüfung, ob und ggf. in welchen
verfassungsrechtlichen Grenzen die DNA-Analyse entsprechend den erkennungsdienstlichen Maßnahmen zum
Zweck der Identifizierung in künftigen Strafverfahren genutzt werden kann.
Anlässlich einer Expertenanhörung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 18. September 2003 und bei einem öffentlichen Fachgespräch der Fraktion des Bündnis 90/
DIE GRÜNEN am 1. März 2004 sowie in einem Gespräch mit der BMJ am 15. Juni 2004 habe ich betont,
dass sich eine Gleichstellung der DNA-Analyse mit einem herkömmlichen Fingerabdruck schon deshalb verbietet, weil das Aussagepotential des DNA-Probenmaterials ungleich größer ist. Auch nach heutigem Stand der
Technik sind bei der DNA-Analyse schon Rückschlüsse

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