Drucksache 14/5555

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Weit kritischer als das Gewinnen von Erkenntnissen aus
der Analyse des eigenen Genoms sind die Fälle zu sehen,
in denen sich jemand Kenntnisse der genetischen Konstellation eines anderen Menschen verschafft, um sie bei
seinen Entscheidungen zu berücksichtigen. Die Diskussion darüber ist längst noch nicht abgeschlossen, und die
weitere Meinungsbildung wird wohl auch davon abhängen, was denn tatsächlich alles aus einer Genomanalyse
einigermaßen zuverlässig abgeleitet werden kann und
was vom Schicksal eines Menschen unkalkulierbares Geheimnis der Zukunft bleiben wird.
Die in diesem Bericht als Anlage 26 abgedruckte Entschließung greift kritische Nutzungen der Genomanalyse
(u. a. zur pränatalen Diagnostik und für Versicherungszwecke) auf und belegt damit die Notwendigkeit, gesetzlich Grenzen zu ziehen – auch mit dem Risiko einer neuen
Festlegung auf der Grundlage heute noch nicht verfügbarer Erkenntnisse.

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Wir alle hinterlassen an vielen Orten Zellmaterial, das
schon heute oder in absehbarer Zukunft für eine Genomanalyse ausreicht: Etwas Speichel an einem Glas oder
an einer Zigarettenkippe, ein ausgefallenes Haar mit Wurzel, eine Schuppe der Kopfhaut, etwas abgeschürfte Haut
auf rauhem Putz oder etwas Blut auf dem bei einer kleinen Verletzung hilfreich angebotenen Taschentuch. Vermutlich wird es in einigen Jahren nur wenig Mühe und
Kosten erfordern, um aus diesen Spuren zu analysieren,
ob wir so einigermaßen normal sind oder für bestimmte
Krankheiten ein besonders hohes Risiko tragen. Außerdem können aus mehreren solcher Proben die genetischen
Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den so ausgeforschten Personen erkannt werden, die z. B. bei Adoptionen aus guten Gründen geheim bleiben sollten. Anders als
beispielsweise das unbefugte Öffnen eines Briefes sind
derart gravierende Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht
derzeit nicht strafbar, lediglich die Datenschutzgesetze
ziehen in ihrem Anwendungsbereich gewisse Grenzen für
die Erhebung und Verarbeitung solcher Daten. Diese Vorschriften sind aber nicht anwendbar, wenn etwa ein Vater
das Genom des Freundes seiner Tochter analysieren lässt,
um bei Bedarf sein Kind vor dem weiteren Umgang warnen zu können, oder wenn jemand einfach aus Neugier
untersuchen lässt, ob Geschwister wirklich Geschwister
sind. Auch zur Diskriminierung eines Konkurrenten, z. B.
bei Wahlen, könnte man so gewonnene Erkenntnisse nutzen oder nutzen lassen. Die Höhe der Kosten für solche
Angriffe auf das Persönlichkeitsrecht wird bald keinen
wirksamen Schutz mehr bieten. Denn der Einsatz eines
speziell für solche Standard-Analysen konstruierten
Chips wird vermutlich in einigen Jahren schätzungsweise
nur etwa hundert Euro kosten.
Vordringlich scheint mir deshalb ein gegen jedermann gerichtetes, ausdrückliches und strafbewehrtes Verbot, ohne
besondere Befugnis
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die Analyse des Genoms eines Anderen durchzuführen
oder durchführen zu lassen oder

Ergebnisse der Analyse des Genoms eines Anderen zu
verarbeiten und zu nutzen.

Die Befugnis sollte nur durch eine ausdrückliche gesetzliche Vorschrift oder durch die Einwilligung des Betroffenen erlangt werden können. Dabei müssen jeweils Zweck
und Umfang der Analyse bestimmt und die weitere Verwendung der Ergebnisse abschließend festgelegt werden.
Zu diskutieren wäre,
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25.2.3 Genomanalyse als Privatgeheimnis

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode

ob man die Einwilligung nur für bestimmte Zwecke
gelten lassen sollte, um das Erzwingen einer wirksamen Einwilligung, beispielsweise für Zwecke des Arbeitsverhältnisses, auszuschließen,
unter welchen Bedingungen und für welche Zwecke
die Einwilligung einer nicht einwilligungsfähigen Person durch eine andere Erklärung ersetzt werden kann
und
welche Regelungen für die Genomanalyse im Interesse
des ungeborenen Kindes zu treffen sind.

Diese Schutzmaßnahmen für eines der wichtigsten Geheimnisse eines Menschen sollten getroffen werden, auch
wenn das Risiko besteht, dass sie mangels international
abgestimmter Regelungen nicht in allen Bereichen vollständig und zuverlässig greifen. Es ist besser, bald die internationale Diskussion damit anzustoßen, als auf ein sich
irgendwann einmal einstellendes Ergebnis zu warten.

25.3

Krebsregister

Am 31. Dezember 1999 trat das Gesetz über Krebsregister (Krebsregistergesetz – KRG) vom 4. November 1994
außer Kraft. Damit fand ein langwieriger, aber erfolgreicher Diskussions- und Aufbauprozess seinen Abschluss.
Während die Wahrung des Arztgeheimnisses generell als
geboten galt und gilt, war Datenschutz in der epidemiologischen Forschung und besonders bei der Führung von
Krebsregistern vor Jahren Gegenstand engagiert und zum
Teil polemisch geführter Auseinandersetzungen (s. dazu
u. a. 4. TB S. 46 f. und S. 48 f.). Jedoch gab es gerade in
den wesentlichen Prinzipien für den Datenschutz bei
Krebsregistern schon Anfang der achtziger Jahre auch
weitgehende Übereinstimmungen zwischen der Konferenz der für das Gesundheitswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder und der Konferenz der
Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder
(s. 6. TB S. 35f.).
Erhebliche neue Impulse erhielt diese Diskussion aus der
erfolgreichen Zusammenarbeit – u. a. von Epidemiologen
und Datenschützern – bei der „Rettung“ des Krebsregisters der ehemaligen DDR (s. 13. TB S. 32 f.). Bald darauf
wurde eine praktikable Lösung für die schwierige Aufgabe erarbeitet, Krebsregister weitgehend anonym zu
führen und trotzdem die darin enthaltenen Daten über die
einzelnen Fälle um die jeweils neuen Angaben über den
weiteren Verlauf zu ergänzen (s. 14. TB S. 103 f.). Hilfreich war dabei die Entwicklung von Krypto-Verfahren,
die mit erträglichem, weitgehend automatisiert zu leistendem Aufwand einzusetzen waren.

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